Adelheid Wessler blickt in die Kamera.
Interview

Transdisziplinarität: "Wir glauben, dass dieses Konzept wirkt"

Interview: Jens Rehländer

Um die großen Zukunftsfragen anzugehen, ist transdisziplinäre Forschung aus Sicht der VolkswagenStiftung chancenreich. Teamleiterin Adelheid Wessler erläutert im Gespräch, wie die Stiftung mit neuen Förderangeboten dazu beitragen will, diesen Methodenansatz nachhaltig zu etablieren – neben Grundlagen- und disziplinärer Forschung.

Die Wissenschaft sollte schneller als bisher konkrete Lösungsvorschläge für die drängenden Probleme unserer Zeit finden. Sonst droht sie in politischen und gesellschaftlichen Diskursen an Relevanz einzubüßen. Eng verknüpft mit diesem fälligen Wandel ist aus Sicht der VolkswagenStiftung die verstärkte Beteiligung außerwissenschaftlicher Gruppen an der Formulierung von Forschungsfragen und am konkreten Forschungsprozess. Um die verschiedenen Perspektiven konstruktiv zu nutzen, erscheint der Stiftung die "transdisziplinäre Forschung ", kurz: TD-Forschung, als gut geeigneter Methodenansatz. 

TD-Forschung aber hat in Deutschland keinen leichten Stand. Zweifellos wird es noch dauern, bis sie ähnlich tief im Wissenschaftssystem verankert sein wird wie disziplinäre oder Grundlagen-Forschung. Um diese Entwicklung voranzutreiben, bringt die Stiftung immer wieder neue Förderangebote an den Start, die transdisziplinäres Arbeiten erfordern – aktuell etwa die Ausschreibung "Change! Fellowships und Research Groups" (Stichtage 28. März bzw. 24. April 2024).

Im Gespräch erläutert Adelheid Wessler, Leiterin des Profilbereichs "Gesellschaftliche Transformationen", welche strategischen Ziele die Stiftung mit der Förderung von Transdisziplinarität verfolgt.

Es gibt viele Vorbehalte gegen Transdisziplinarität: zu komplex, zu großer Organisationsaufwand, abweichende Zielvorstellungen der Beteiligten aus verschiedenen Disziplinen. Ganz zu schweigen von den außerwissenschaftlichen Akteursgruppen, die eingebunden werden sollen. Und bei Berufungsverhandlungen ist transdisziplinäre Expertise nicht gefragt. Warum fördert die Stiftung diesen Methodenansatz trotzdem?

Wessler: Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat seit Jahrzehnten einen festen Platz in der Förderstrategie der Stiftung. In unserer internationalen Förderung beispielsweise hat das immer gut geklappt. Über zwei Jahrzehnte lang haben wir regionenspezifisch in Mittelasien/Kaukasus und im subsaharischen Afrika gefördert. Dort spielte der Transfer aus der Wissenschaft in die Anwendung immer eine wichtige Rolle. Viele Formen der Kooperation mit außerwissenschaftlichen Gruppen konnten dort erfolgreich erprobt werden. Mit anderen Worten: Wir haben viele Proofs of Concept erbracht, die beweisen, dass Transdisziplinarität funktioniert.

Dr. Adelheid Wessler

Dr. Adelheid Wessler leitet den Profilbereich "Gesellschaftliche Transformationen".

Was genau versteht die Stiftung unter Transdisziplinarität?

Wessler: Eine allgemeingültige Definition steht noch aus, aber es gibt inzwischen einige Literatur zu diesem Themenfeld. Aus Sicht der Stiftung ist es hier von Bedeutung Transdisziplinarität von Interdisziplinarität klar abzugrenzen. Es geht bei transdisziplinärer Forschung – auch "TD- Forschung" genannt – klar darum, den wissenschaftlichen Diskurs mit Perspektiven außerwissenschaftlicher Akteursgruppen zu ergänzen, um einen Beitrag zu den so dringend nötigen Transformationen zu leisten. Dieses Transformationswissen entsteht in einem offenen Prozess, in dem immer wieder die Positionen der unterschiedlichen Beteiligten reflektiert werden. In unserem Profilbereich "Gesellschaftliche Transformationen" spielt dieser methodische Ansatz naturgemäß eine zentrale Rolle…

Warum?

Wessler: Weil im Profilbereich grenzüberschreitende und multiperspektivische Ansätze einen methodischen Schwerpunkt bilden. Hier wird von den Projekten erwartet, neues Wissen zu gesellschaftlichen Herausforderungen zu generieren und neue Wege zur Gestaltung gesellschaftlicher Transformationen zu eröffnen. Aktuell adressieren wir die Themenbereiche "Demografie", "Kreislaufwirtschaft", "Reichtum", "Gesundheit" und "Demokratie" mit Förderangeboten. 
 

Ein Roboter mit menschlichem Antlitz

Profilbereich "Gesellschaftliche Transformationen"

In diesem Profilbereich fördert die Stiftung Forschung, die mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Wissensbestände zu Transformationsprozessen erweitert und kritisch reflektiert. Wir wollen besser verstehen lernen, wie Transformationsprozesse ablaufen und welche Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten die Wissenschaft dabei hat.

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Regelrechte Trendthemen…

Wessler: Auf jeden Fall adressieren wir hier sehr aktuelle, globale Herausforderungen. Wir leben in krisenhaften Zeiten – in globaler, regionaler und lokaler Perspektive. Unsere Lebensgrundlagen werden als bedroht wahrgenommen. Wie wird es mit dem Klimawandel weitergehen? Kann unser Lebensstandard angesichts der Rohstoffknappheit aufrechterhalten werden? Wie sollen wir auf die Bedrohung unserer demokratischen Gesellschaftsordnung reagieren? Auf diese Fragen werden Orientierung und Rat aus der Wissenschaft erwartet. Und zwar schneller, deutlich schneller, als es die Wissenschaft mit ihrem regelbasierten Erkenntnisprozess bislang gewöhnt war.

Und transdisziplinäre Forschung liefert diese Ergebnisse? 

Wessler: Eine Garantie gibt es dafür natürlich nicht. Wir experimentieren selbst noch. Vor wenigen Tagen beispielsweise war Stichtag in der Förderinitiative "Transformationswissen über Demokratien im Wandel". Hier konnten transdisziplinäre Gruppen sich um eine Förderung bewerben, die von der  gemeinsamen Definition der Forschungsfrage über einen partizipativen Forschungsprozess bis hin zur Entwicklung von Ergebnissen für die Wissenschaft und gesellschaftliche Entscheidungsträger reicht. Wir haben mehr als 70 Anträge erhalten. Das Interesse ist also groß. Unter dem Dach dieser Initiative haben wir auch erste Bewilligungen für transdisziplinäre Task Forces ausgesprochen, die binnen eines Jahres eine Forschungsfrage definieren und zur Ergebnisreife bearbeiten. Das Interesse an solchen dynamischen Projekten ist also vorhanden. Ob auch die intendierte Wirkung erreicht wird, werden wir über eine Begleitforschung feststellen lassen.

Woher wissen Sie, dass die Einbindung außerwissenschaftlicher Gruppen tatsächlich so erfolgt, wie sich das die Stiftung wünscht?

Wessler: Bei unseren transdisziplinären Förderangeboten, insbesondere auch bei unserem neuen Personenförderprogramm "Change!", müssen Antragstellende die Konstellation aller beteiligten Projektpartner begründen und auch darüber reflektieren, wie sie im Forschungsprozess mit politischen Interessen und Agenden umgehen wollen. Unser oberstes Ziel bleibt stets qualitätsvolle und ergebnisoffene Forschung. Transdisziplinäre Projekte brauchen immer wieder die selbstkritische Reflektion. Das mag manchmal anstrengend sein, birgt im Ergebnis aber riesige Erkenntnischancen. Und führt sogar zu neuen Berufsbildern.

Welchen?

Wessler: Wir geben beispielsweise Projektmittel auch für die Rolle eines "Facilitator". Aufgabe dieser Person ist es, das Team zusammenzuhalten und immer wieder auf das gemeinsame Forschungsziel auszurichten. Da erwirbt man sich Erfahrung und Expertise, die auch für eine Karriere außerhalb des Wissenschaftssystems nützlich sind. Die unbefristete Professur bleibt für die meisten unerreichbar. Das sollten sich auch die bewusst machen, die vielleicht aus Karrieregründen transdisziplinäre Forschung bislang lieber gemieden haben. Die sollten sich jetzt trauen.

Illustration mit zwei Personen, eine hält einen Bauplan, die andere überklebt eine Litfasssäule

Zielgruppe für die "Change! Fellowships and Research Groups" sind Persönlichkeiten aus der Wissenschaft, die gemeinsam mit außerwissenschaftlichen Stakeholdern zu Transformationsprozessen forschen und diese anschieben möchten.

Trotzdem zeigt sich das deutsche Wissenschaftssystem spröde…

Wessler: Aber es gibt Bewegung! Bei der aktuellen Ausschreibung "Change! Fellowships and Research Groups" beispielsweise hatten wir in zwei Online-Sprechstunden jeweils 150 Teilnehmende! Insbesondere die Research Groups richten sich an etablierte Professor:innen, die sich eine transdisziplinäre Forschungsgruppe aufbauen möchten. Mit dieser Personenförderung verknüpfen wir die Hoffnung auf einen starken strukturellen Impuls ins Wissenschaftssystem. Aber natürlich braucht es dafür auch die Unterstützung durch die Institutionen.  

Wie gehen andere Länder mit Transdisziplinarität um?

Wessler: In vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA und Kanada, beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Thema und entwickeln Ideen, wie den gesellschaftlichen Herausforderungen am besten begegnet werden kann und welche Rolle Transdisziplinarität dabei spielt. So hat die Stiftung derzeit einen gemeinsamen Call mit zwei großen europäischen Förderern, dem Wellcome Trust in Großbritannien und der Novo Nordisk Foundation in Dänemark, zum Thema "Transdisciplinary Approaches to Mobility and Global Health". Zur Reflexion der Erfahrungen mit Förderung von TD-Forschung nutzt die Stiftung außerdem ihre Mitgliedschaft beim "Research on Research Institute" mit Sitz in Großbritannien. Perspektivisch möchten wir mit unseren Erfahrungen und diesen Vernetzungen auch einen Beitrag leisten zur wissenschaftspolitischen Diskussion um TD-Forschung in Deutschland und international.