Grenzenlose Transparenz – Fluch oder Segen? Expertenkonferenz in Berlin über aktuelle Forschung und Diskurse
Transparenz in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kann schaden oder nützen. Aber wie lässt sich eine gesellschaftlich akzeptierte Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, Öffentlichkeitsinteresse und Privatsphäre finden? Internationale Expertinnen und Experten diskutieren vom 12. bis 14. Juni auf der Herrenhäuser Konferenz in Berlin.
Das Konzept der "Transparenz" steht ganz aktuell wieder im Zentrum öffentlicher Debatten. Die eine Seite begreift Transparenz als Chance, um dem Missbrauch von politischer und wirtschaftlicher Macht entgegenzuwirken und damit Demokratie, Partizipation und Freiheit zu stärken. Die andere Seite warnt vor einer "Tyrannei der Transparenz" und sieht in ihr eine große Gefahr durch verstärkte soziale Kontrolle, steigende Überwachungsmöglichkeiten, Einschränkung der Privatsphäre, der Individualität und des sozialen Vertrauens.
Auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften befassen sich Forscherinnen und Forscher immer intensiver mit der Frage, welche Auswirkungen das Streben nach grenzenloser Transparenz auf unsere Gesellschaft sowie den sozialen und kulturellen Wandel im "digitalen Zeitalter" haben kann. Dieser Frage wollen auch die internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Herrenhäuser Konferenz "Transparency and Society – Between Promise and Peril" nachgehen. Befürworter und Kritiker aus Wissenschaft, Politik, NGOs und den Medien, die sich mit dem Thema Transparenz in der Gesellschaft befassen, kommen dazu in Berlin zusammen.
Unter anderem werden folgende Themen im Fokus der Sessions stehen (Link zum detaillierten Programm als pdf):
Session I: Transparency and Public Policy – Historical and Methodological Perspectives
Session II: Transparency in the Digital Age
Session III: Transparency and Institutional Environment
Session IV: Transparency, Knowledge and Informational Openness
Session V: Transparency and the Individual – the End of Privacy?
Session VI: Towards a "Transparent Society"?
Herrenhäuser Konferenz: "Transparency and Society – Between Promise and Peril"
12. Juni, 13 Uhr, bis 14. Juni, 15 Uhr
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Medienvertreter(innen) sind herzlich willkommen, an der Konferenz oder einzelnen Teilen davon teilzunehmen und mit den führenden Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet zu diskutieren. Gerne organisieren wir Interviewtermine für Ihre Berichterstattung! Eine formlose Anmeldung wird erbeten an presse(at)volkswagenstiftung.de.
Wer zu Gast sein wird und welche Positionen die Expertinnen und Experten vertreten (fünf Beispiele aus 19 Vorträgen):
Michael Schudson (Columbia Journalism School, Columbia University, New York): Transparency and its Troubles
Transparenz ist nicht zwangsläufig ein ultimatives Ziel für oder Merkmal von Demokratie – und sie wetteifert mit anderen Werten der Gesellschaft: Befürworter der Transparenz müssen berücksichtigen, dass Transparenz dem Streben nach Privatsphäre oder dem Schutz von Personen oder Gruppen auch schaden kann. Schudson spricht über Wertkonflikte und die Notwendigkeit, dass Transparenzbefürworter stärker berücksichtigen müssen, unter welchen Umständen Transparenz als öffentliches Gut angesehen wird – und wann nicht.
Rogério Christofoletti (Department of Journalism, Universidade Federal de Santa Catarina, Brazil): Whistleblowers, Dedia and Democracy in Latin America
In Lateinamerika wechselten sich in der Vergangenheit in vielen Ländern kurze Phasen politischer Stabilität mit Diktaturen und destabilisierten Regierungen ab – zudem sind Transparenz und Rechenschaftspflicht dort in der Regel nicht ausreichend gefestigt. Christofoletti berichtet davon, wie Medien dazu beitragen können, diese Mechanismen besser zu etablieren, wie neue Formate und Organisationen im journalistischen Bereich die Mächte und Mächtigen zunehmend beobachten und wie Whistleblower mithilfe auch sensibler Informationen die Neuaufstellung der politischen und sozialen Agenda in der Region unterstützen.
Padideh Ala'i (Washington College of Law, American University, Washington, D. C.): Transparency and its Limits
Ala'i berichtet von der sog. "intellektuellen Korruption", die einen fehlenden moralischen oder ethischen Kompass bei Autoritäten bezeichnet. Diese Personen oder Institutionen propagieren "alternative Fakten" bzw. verhalten sich so, dass das Vertrauen in sie als Führungspersonen bzw. Institutionen nicht mehr vorhanden ist: Jedweder Transparenzgedanke verliert seinen Nutzen.
Siva Vaidhyanathan (Department of Media Studies, University of Virginia, Charlottesville): Anti-Social Media: How Facebook Divides the World and Undermines Democracy
In dem Vortrag wird analysiert, wie Facebook Gespräche, Empfehlungen und Verbindungen strukturiert, die zwar bei der Mobilisierung Gleichgesinnter nützlich sind, letztlich aber dazu führen, dass Nutzer sich oftmals nur in ihren eigenen Echokammern aufhalten und nicht mehr Teil des öffentlichen Diskurses sind. Wenn Facebook sein Ziel, die "Gemeinschaft" auch über Nations- und Interessensgruppen hinaus zu fördern, erfüllen will, muss Facebook transparenter und offen für Kritik und Reformvorschläge werden.
Martin Hartmann (Philosophisches Seminar, Universität Luzern): Does Transparency Endanger Trust?
In seinem Vortrag wird Hartmann die komplexen Zusammenhänge zwischen Vertrauen und Transparenz erörtern: Er wird die Unterschiede zwischen vertrauensförderlicher und misstrauensbildender Transparenz aufzeigen und erörtern, wie wichtig Transparenz für Vertrauen ist. Denn: Wie kann man einer Person oder Institution vertrauen, wenn wichtige Informationen geheim gehalten werden? Aber: Volle Transparenz, wenn überhaupt möglich, kann Menschen auch dazu ermutigen, weniger ehrlich zu sein, wenn sie davon ausgehen, dass alles, was sie sagen und denken, öffentlich gemacht werden soll.
Wie Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eingebunden werden:
21 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus aller Welt haben die Möglichkeit erhalten, mithilfe von Reisestipendien kostenfrei an der Konferenz teilzunehmen und gleichzeitig ihre Forschungen dem Fachpublikum während der Veranstaltung vorzustellen. In sog. Lightning-Talks von jeweils drei Minuten Länge sowie auf Postern im Konferenzbereich werden sie ihre Projekte präsentieren.
Die jungen Forscherinnen und Forscher reisen unter anderem aus Nigeria, Brasilien, Thailand, Finnland und Israel an und sprechen beispielsweise über "Die Stadt als Datenmaschine: Governance im Zeitalter von Big Data", über "Politische Ökonomie von Justizdaten: Transparenz, Offenheit und Zugang zu Aufzeichnungen von Kriegsverbrecherprozessen", über "Die Rolle von Metriken in der journalistischen Praxis und ihre Auswirkung auf Nachrichtenwerte" oder auch über "Gemeinschaftlich unterstützten Aktivismus und die Politik des Öls".
Die Veranstaltung wird gemeinsam organisiert vom Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, dem Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) sowie der VolkswagenStiftung.