Globale Herausforderungen
Wie sich die Stiftung als Förderin weltweit neu engagiert: Interview mit Dr. Adelheid Wessler, Leiterin des Teams "Internationales" der VolkswagenStiftung, zum Förderprogramm "Global Issues".
Erschreckend deutlich zeigt die Corona-Pandemie, was "globale Herausforderung" im schlimmsten Fall bedeuten kann: die alle politischen und geografischen Grenzen überspringende Ausbreitung einer gefährlichen Infektionskrankheit, wie sie die Menschheit in diesem Umfang seit vielen Jahrzehnten nicht bedroht hat. Die Tatsache, dass große globale Herausforderungen bestehen, und dass diese nur gemeinsam bewältigt werden können, hatte die Stiftung schon im Herbst 2017 dazu veranlasst, in ihrer internationalen Förderung einen neuen Akzent zu setzen: mit der Dachinitiative Globale Herausforderungen – Integration unterschiedlicher Perspektiven ("Global Issues") und ihren thematischen Ausschreibungen. Welche Ziele die Stiftung und ihre Förderpartner damit verfolgen, und wie die Initiative strukturiert ist, erläutert Dr. Adelheid Wessler, Teamleiterin Internationales.
Frau Wessler, dass die Ausschreibung "Mobility – Global Medicine and Health Research" im Rahmen der "Global Issues" so dramatisch an Aktualität gewinnt, war natürlich nicht abzusehen. Was stand bei der Einrichtung dahinter?
Adelheid Wessler: Der Grundgedanke war, dass die große Mobilität von Menschen, aus touristischen oder wirtschaftlichen Gründen oder unfreiwillig durch Flucht und Vertreibung, große Herausforderungen aber auch Chancen für die Gesundheitssysteme in den betroffenen Ländern mit sich bringen. Wir erleben das ja gerade überdeutlich, wie Covid-19 sich durch die engen Verflechtungen in der Welt rasant ausbreitet und in den jeweiligen lokalen Gegebenheiten zum Teil desaströse Auswirkungen hat.
Die Idee für diesen Call ist in einem Austausch zwischen uns und anderen großen europäischen Stiftungen entstanden, Wellcome aus Großbritannien, der Novo Nordisk Foundation aus Dänemark sowie der La Caixa Foundation aus Spanien. Wir wollen Projekte fördern, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Auswirkungen von Mobilität auf die Gesundheit lokaler und mobiler Bevölkerungsgruppen und die unterschiedlichen Gesundheitssysteme beschäftigen. Die Lösungsansätze sollen natürlich nachhaltig sein.
Gibt es Anfragen im Zusammenhang mit Corona? Was können Sie da antworten?
Adelheid Wessler: Ja, es gibt natürlich einige konkrete Anfragen. Die Antwort lautet: Der Call ist prinzipiell offen für interdisziplinäre Forschungen, etwa zu den Auswirkungen sozialer und kultureller Verhältnisse auf den Umgang mit einer Herausforderung wie etwa Corona, oder auch zu den Chancen und Risiken des Einsatzes digitaler Technologien in diesem Kontext. Für kurzfristige Finanzierungshilfen eignet sich der Call aber nicht, weil er einen mehrstufigen Antrags- und Begutachtungsprozess umfasst. Konkret sieht das so aus, dass zunächst im Sommer dieses Jahres bis zu 50.000 EUR für eine einjährige Vorbereitungsphase bereitgestellt werden können und die Hauptprojekte nach erneuter Antragstellung zum Sommer 2021 dann frühestens im Januar 2022 starten können. Für die schnelle Unterstützung von Forschungsprojekten, die sich aktuell aus der Corona-Krise ergeben, bereitet die Stiftung gerade ein gesondertes Förderangebot vor.
Wie ist denn das Echo in der Community auf die Initiative "Global Issues" insgesamt?
Adelheid Wessler: Das Echo ist sehr positiv. Aus Antragstellersicht wird besonders hervorgehoben, wie gut es ist, dass wirklich globale Forschungskonsortien gefördert werden, bei denen die Mittel gleich verteilt sein müssen zwischen den Partnern aus dem globalen Norden und dem Süden. Wobei auch immer auf die Herausforderungen hingewiesen wird, die eine solche Kooperation mit sich bringen kann. Deshalb nimmt man auch erfreut zur Kenntnis, dass wir in den verschiedenen Ausschreibungen der "Global Issues" unterschiedlich lange Phasen der Vorbereitung und des Zusammenfindens ermöglichen.
In der Stiftungslandschaft und der breiteren Öffentlichkeit dagegen wird besonders positiv gesehen, dass sich hier europäische Stiftungen gemeinsam engagieren hinsichtlich wichtiger Themen von globaler Relevanz. Das sind bislang: soziale Ungleichheit, kulturelles Erbe und Gesundheit. Weitere Themen sind in der Planung.
Was ist für Sie das Besondere, was ist Ihnen persönlich wichtig?
Adelheid Wessler: Mir ist es vor allem wichtig, dass wir hier Wege eröffnen, um Forscherinnen und Forscher aus dem Globalen Süden gleichberechtigt in die Entwicklung von Projekten einzubinden. Häufig verlief und verläuft internationale Forschung doch sehr stark durch den Norden getrieben – nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich. Im Norden werden die Themen gesetzt und die wissenschaftlichen Fragen entwickelt. In einem zweiten Schritt werden dann Partner aus dem globalen Süden gesucht, um sie als Juniorpartner in die Projekte einzubeziehen. Es muss ein Umdenken hin zu einem gleichberechtigten Agendasetting stattfinden, und dazu möchten wir einen Beitrag leisten. Durch die Finanzierung der Vorbereitungsphasen können die Partner sich und ihre Fragestellungen und Methoden kennenlernen und ihre unterschiedlichen Perspektiven zur Wirkung bringen. Nur so kann Forschung einen sinnvollen Beitrag leisten zur nachhaltigen globalen Entwicklung.
Das ist ein wichtiges Stichwort: Wie sehen Sie die Rolle der Wissenschaft bezüglich der SDGs der Vereinten Nationen?
Adelheid Wessler: Die Welt steht vor großen Herausforderungen, die global verwoben sind und deren Bewältigung globales Handeln erfordert. Die Corona-Pandemie, die wir derzeit erleben müssen, steht hier neben beispielsweise Klimakrise, Umweltverschmutzung, Biodiversitätsverlust, sozialer Ungleichheit und Hunger, Terrorismus und gewalttätigen Konflikten. Viele wissenschaftliche Studien zeigen schon lange, dass die meisten dieser Herausforderungen menschengemacht sind und welch dringender Handlungsbedarf besteht. Mit der Verabschiedung der "Sustainable Development Goals" haben sich alle UN-Mitgliedsstaaten verpflichtet, aktiv ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit anzustreben. Die Forschung hat dabei eine entscheidende Rolle: Sie liefert die Wissensbasis für die notwendigen, weitreichenden Entscheidungen. Erst durch Forschung werden Innovationen auf technischer, aber auch institutioneller, sozialer und kultureller Ebene möglich.
Wie kann die Wissenschaftsförderung eine solche Transformation unterstützen?
Adelheid Wessler: Die Wissenschaftsförderung kann das unterstützen, indem sie in die Entwicklung neuer Förderangebote die Perspektive der nachhaltigen globalen Entwicklung einbezieht. Die Stiftung lädt deshalb Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt zu den Beratungen ein, bei denen neue Themengebiete und neue Forschungs- und damit Förderbedarfe diskutiert werden. Aus solchen Beratungen hat sich beispielsweise auch die Projektstruktur ergeben, die wir in den "Global Issues" vorgeben und die eine gleichberechtigte transnationale Zusammenarbeit ermöglichen soll: Die Anzahl der Partner aus Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen muss genauso groß oder größer sein als die der Partner aus Hocheinkommensländern. Dabei orientieren wir uns an der Einordnung der Staaten in reichere (HIC) und ärmere Länder(LMIC), wie sie die Weltbank jährlich definiert.
Diese Projektstruktur allein wird aber wohl nicht die Gleichberechtigung der Partner garantieren können?
Adelheid Wessler: Nein, sicher nicht. Wir Forschungsförderer sind auch gefragt, diejenigen Projekte zu identifizieren, in denen auf hohem wissenschaftlichem Niveau diese Gleichberechtigung tatsächlich gelebt wird. Daher sehen wir einen zweistufigen Begutachtungsprozess vor, der die Präsentation der Projekte vor einem Gutachtergremium umfasst. Aus der Interaktion der Projektbeteiligten – das können bis zu drei sein – kann man erfahrungsgemäß ganz gut auf deren Kooperationsmodus schließen. Dies haben wir auch bei der Begutachtung in der Ausschreibung "Integrating Different Perspectives on Social Inequality" gesehen. Aber vielleicht noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass in die Gutachtergremien auf jeden Fall ausreichend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Globalen Süden berufen werden. Dadurch fließen neue Perspektiven in die Begutachtung und damit in die Auswahl der zu fördernden Projekte ein. Und das ist für die Neuorientierung hin zu einer lösungsorientierten und jeweils lokal angepassten Forschung unabdingbar.
Globale Herausforderungen und lokal angepasste Forschung - passt das denn zusammen?
Adelheid Wessler: Ja, das klingt erstmal wie ein Widerspruch. Und ob es im gewünschten Maß gelingt, wird sich erst noch zeigen. Wir wollen aber mit den Ausschreibungen ein Setting ermöglichen, in dem Partner aus unterschiedlichen Low and Middle Income Countries voneinander lernen und sich vernetzen. Und wir möchten auch, dass die HICs von den Erfahrungen und der Expertise aus LMICs lernen. Wir sind der Überzeugung, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Lösungen für die meisten Probleme der Welt im Norden entwickelt und dann in den Süden transferiert werden. Es gibt viele Beispiele, dass das anders mindestens ebenso gut funktioniert, etwa die Entwicklung von Modellen für regionales Wirtschaften.
Die Stiftung hat in anderen europäischen Stiftungen Förderpartner für die "Global Issues" gefunden. Ist das ein Modell auch für weitere Aktivitäten?
Adelheid Wessler: Mit ihrer Kooperation erreichen die Stiftungen neben dem größeren Finanzvolumen eine größere Sichtbarkeit für die Themen der Ausschreibungen. Auch der übergeordnete Aspekt der Integration unterschiedlicher Perspektiven wird dadurch weiterverbreitet. An den einzelnen Calls beteiligen sich unterschiedliche Stiftungen, je nach ihrer Ausrichtung; so engagiert sich etwa Wellcome nur bei dem Thema Gesundheitsforschung. Die VolkswagenStiftung hat eine langjährige gute Erfahrung mit solchen Kooperationen.
In der Ausschreibung zur sozialen Ungleichheit gibt es erste Bewilligungen. Haben die Anträge ihre Erwartungen erfüllt?
Adelheid Wessler: In diesem Call unterstützen die Förderpartner nun acht Projekte mit insgesamt 11,6 Mio EUR. Durch den globalen Ansatz werden hier ganz neue Länder und Regionen einbezogen, welche durch die bisherige Förderung der Stiftung noch nicht adressiert waren. Es kommt beispielsweise zu Kooperationen zwischen Kolumbien, Brasilien und Deutschland, zwischen den Niederlanden, Südafrika und Indien oder zwischen Kamerun, Demokratischer Republik Kongo, China, Finnland und Deutschland. Inhaltlich geht es in den Projekten um Fragen der sozialen Ungleichheit durch lang existierende Strukturen wie Sonderwirtschaftszonen, aber auch um modernes Sklaventum und Arbeitsausbeutung. Es wird ein breites Themenspektrum abgedeckt. Zu erwarten ist leider, dass sich das Problem der sozialen Ungleichheit im Zuge der Corona-Pandemie national und noch mehr in globaler Perspektive verstärken wird. Von daher gewinnt die für nächstes Jahr geplante erneute Ausschreibung zu diesem Thema eine traurige Aktualität, die vorher so nicht absehbar war.