1 Mio. Euro für Provenienzforschung an Göttinger Schädelsammlungen

Die Debatte über den verantwortungsvollen Umgang mit menschlichen Überresten aus (vor-)kolonialen Zeiten hat nach den Museen auch die akademischen Sammlungen erreicht. Hier hat eine Auseinandersetzung mit der Herkunft der Bestände und ihrem Einsatz in Forschung und Lehre bislang kaum stattgefunden. Das möchte nun ein international und interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsvorhaben an der Universität Göttingen nachholen.

Die Universität Göttingen besitzt zwei bedeutende Sammlungen menschlicher Überreste aus (vor-)kolonialen Zeiten: Zum einen die "Sammlung Anthropologie" mit etwa eintausend Schädeln und Schädelfragmenten aus Europa und Übersee. Zum anderen die "Blumenbachsche Schädelsammlung" aus dem 19. Jahrhundert mit 840 Schädeln und Abgüssen, davon etwa 200 mit außereuropäischer Provenienz. Beide Sammlungen dienen bis heute als Arbeitsobjekte für Lehre und Forschung.

Was bisher für beide Bestände ungeklärt ist: Wer waren die frühen Schädelsammler? Wo, wann und wie genau gelangten die Schädel in ihren Besitz – und auf welchen Wegen nach Göttingen? Die Klärung dieser Herkunftsfragen bilden den ersten Baustein in dem Forschungsprojekt "Sensible Provenienzen – Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten in den Sammlungen der Universität Göttingen", für das die VolkswagenStiftung 980.000 Euro für eine Laufzeit von drei Jahren an die Zentrale Kustodie der Universität Göttingen bewilligt hat.

Im Mittelpunkt des zweiten Bausteins in dem Vorhaben stehen Fragen nach geografischer Herkunft, Geschlecht und Sterbealter, Krankheiten und Todesumständen. Zudem erhoffen sich die Forschenden Aufschluss über Bergungs- und Sammlungsumstände. Am Ende des Forschungsprozesses soll mit Vertreterinnen und Vertretern aus den Herkunftsländern entschieden werden, ob die Gebeine rückgeführt werden oder in den Sammlungen für weitere Forschungszwecke verbleiben können.

Der dritte Projektbaustein zielt im Sinne einer Begleitforschung auf die Arbeitspraktiken in Forschung und Lehre: Wie lässt sich Provenienzforschung in diesem besonders sensiblen Feld der Anthropologie verantwortungsvoll gestalten? Welche Untersuchungsmethoden sind möglich und notwendig? Und welche Auswirkungen haben die Befunde der Forschungsgruppe auf Lagerung, öffentliche Präsentation und etwaige Rückgabe der Objekte sowie auf die Praxis von Forschung und Lehre? 

"Mit unserer Förderung können wir einen wichtigen Impuls in einem sehr aktuellen Themenfeld geben. Das Forschungsprojekt kann dazu beitragen, Standards in diesem Bereich zu setzen, die in vielen weiteren Fällen zur Anwendung kommen können", erklärt Dr. Adelheid Wessler, die für das Projekt zuständige Mitarbeiterin der VolkswagenStiftung.

 
Forschungsförderung zu "Erbe und Wandel" durch die VolkswagenStiftung

Nach Göttingen kamen die Schädel und Gebeine in den 1950er-Jahren aus dem damaligen Museum für Völkerkunde Hamburg. Das Foto zeigt einen Karteikasten aus der Anthropologischen Sammlung. (Foto: Birgit Großkopf – Universität Göttingen)

Die VolkswagenStiftung hat im Dezember 2019 die Ausschreibung "Globale Herausforderungen – Integration unterschiedlicher Perspektiven zu Erbe und Wandel" ins Leben gerufen. Sie ist Teil des internationalen Förderprogramms "Global Issues – Integrating different Perspectives", das darauf abzielt, neue Erkenntnisse zu bisher wenig erforschten Herausforderungen globaler Relevanz zu generieren. Da unser kulturelles Erbe – charakterisiert als der ideelle Besitz der gesamten Menschheit –vielfältigen Wandlungsprozessen durch aktuelle politische Entwicklungen, ökologische Veränderungen sowie technische Neuerungen unterworfen ist, sollen in der Ausschreibung innovative Forschungsprojekte Berücksichtigung finden, die sich mit diesen Wandlungsprozessen befassen. Sie richtet sich primär an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, die die Blickwinkel unterschiedlicher Akteure auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene einbeziehen, da Kulturerbe einen über Ländergrenzen hinausgehenden identitätsstiftenden Charakter besitzt. Zudem ist unser Kulturerbe in etlichen Teilen der Welt ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt, die häufig transnationaler Lösungsansätze bedürfen.

Das Forschungsprojekt "Geteiltes Wissen", das sich mit der "Dekolonisierung" ethnologischer Museen befasst, begleitet unter anderem die Bauphasen eines traditionellen Gemeinschaftshauses der Kotiria in Macucu (Kolumbien). (Foto: Mikko Gaestel)