1968 – Neue Blicke auf ein Schlüsseljahr und seinen globalen Kontext
Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts wollen Wissenschaftler(innen) am Deutschen Literaturarchiv Marbach ein neues Verständnis von "1968" und seinem Kontext gewinnen. Durch die Vernetzung mit komplementären globalen Archivbeständen sollen der Blick geweitet und die internationalen ideengeschichtlichen Dimensionen sichtbar werden.
Die VolkswagenStiftung fördert das Forschungsprojekt "1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven" mit einer Summe von 690.000 Euro für einen Zeitraum von drei Jahren im Rahmen ihrer Förderinitiative "Offen – für Außergewöhnliches". Die Vernetzung der relevanten Bestände im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) mit entsprechenden globalen Archiven hat zum Ziel, Ideen- und Kulturkonflikte sowie Phänomene und Praktiken des Kulturtransfers zwischen den USA, Lateinamerika, der Karibik und Europa aufzudecken und Kommunikationswege in der internationalen "Republic of Letters" nachzuzeichnen.
In Deutschland – wie auch in Frankreich und anderen Ländern, in denen die Bewegung von 1968 für das politische, kulturelle und soziale Selbstverständnis eine entscheidende Rolle spielt – wurde "1968" bisher aus einem engen Blickwinkel rekonstruiert: Politik- und Mediengeschichte, Sozial- und Bildungsgeschichte oder die Geschichte von Alltags- und Protestkulturen konzentrierten sich auf nationale, allenfalls nationenvergleichende Narrative. Nationenübergreifende Ansätze wurden – nicht zuletzt aus quellenpraktischen Gründen – in erster Linie in biographischer Hinsicht verfolgt.
Nachlässe und Akten erhalten neue Relevanz
Während sich die Archive der Protagonisten der Bewegung von "1968" sukzessive öffnen, zeigt sich ein breites Spektrum an relevanten Nachlässen und Akten. Die detaillierte Erfassung von Drucken und Tonaufnahmen, Manuskripten und Briefen ermöglicht einen Blickwechsel: von einer autor-, nation- und kanonzentrierten Betrachtung zu einer Betrachtung der Orte und der Zirkulation, der Netzwerke und Konflikte. Das Interesse gilt den internationalen, ideengeschichtlichen Konfliktlinien, die hinter den Ereignissen von "1968" liegen und quer zu den nationalen und regionalen Kontexten verlaufen.
Allein im DLA werden gegenwärtig ca. 100 Nachlässe, Vorlässe sowie Verlags- und Redaktionsarchive, die für "1968" relevant sind, für die Forschung geöffnet. Ergänzend zu diesen scheinbar nationalliterarisch begrenzten Sammlungen öffnen die Forscher(innen) – basierend auf Erfahrungen im Rahmen der Initiative Global Archives – die Perspektive weiter ins Internationale. Es zeigt sich, dass die Ereignisse und Konflikte von "1968" in West-Berlin und in Frankfurt nicht zu begreifen sind ohne die internationalen Achsen, die nicht bloß nach Paris oder Berkeley reichen, sondern auch an die US-amerikanische Ostküste und in den Mittleren Westen, nach Mittel- und Lateinamerika und in die Karibik. Namen und Bestände werden in den Blick genommen, die zeigen, dass eine Geschichte jenseits der gängigen Erzählungen von "1968" als popkulturellem oder hochschulpolitischem, alltags- oder sozialgeschichtlichem Ereignis weder als Geschichte eines einzelnen geografischen Raumes noch eines einzelnen Archivs erzählt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in der Pressemitteilung des Literaturarchivs Marbach.
Hintergrund Förderinitiative "Offen – für Außergewöhnliches"
Für Projektideen, die ein außergewöhnliches Forschungsdesign verfolgen, visionäre Anstöße in die Wissenschaft geben oder für deren Akzeptanz die Neutralität eines privaten Förderers wichtig erscheint, gibt es das Angebot "Offen – für Außergewöhnliches". Hier fördert die Stiftung herausragende Ideen außerhalb vorgegebener Raster, quer zu Disziplinen und zum Mainstream. Wer hier zum Zuge kommen will, muss mit seinem Vorhaben nicht nur höchsten wissenschaftlichen Maßstäben genügen, sondern auch plausibel darstellen können, dass sich im Rahmen der Förderangebote anderer Institutionen keine Unterstützung für das Projekt finden lässt. Bevorzugt werden Vorhaben, die sich außergewöhnlichen interdisziplinären und methodischen Herausforderungen stellen, die eine einmalige Gelegenheit ergreifen möchten oder die durch ein anderes Alleinstellungsmerkmal überzeugen können. Antragstellung ist nur nach persönlicher Rücksprache möglich.