"China ist nicht unergründlich"
Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: "Der Drache zeigt die Zähne - Aufstand im Reich der Mitte" im Schloss Herrenhausen
Diese Bilder gingen um die Welt: Ein junger Mann steht vor einem Panzer, als könne er ihn mit seinem ungeschützten Leib aufhalten. Der Panzer versucht auszuweichen, der mit einer Plastiktüte bewehrte Mann verstellt ihm auch diesen Ausweg. Die aus großem Abstand gefilmte Szene ist mehr als ein historisches Dokument. Sie wurde zum Symbol für den verzweifelten Mut, aber auch die Ohnmacht der Studenten, die im Juni 1989 in Peking auf dem Tiananmen-Platz, dem "Platz des himmlischen Friedens", gegen die chinesische Staatsmacht demonstrierten.
Dieses Ereignis, das sich 2014 zum 25. Mal jährt und im Westen vorwiegend als ein Aufbäumen der Demokratiebewegung gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei verstanden wird, war Anlass für ein Veranstaltung, zu der die VolkswagenStiftung in das Schloss Herrenhausen eingeladen hatte. Unter dem Titel "Der Drache zeigt die Zähne - Aufstand im Reich der Mitte" sollte diskutiert werden, welche Folgen der Aufstand auf dem Tiananmen-Platz für die wirtschaftliche und politische Entwicklung Chinas hatte.
In einem einleitenden Kurzvortrag stellte Kai Vogelsang vom Afrika-Asien-Institut der Universität Hamburg die chinesische Protestbewegung 1989, ihre Entstehung sowie Zerschlagung in einen geschichtlichen Zusammenhang mit historischen Entwicklungen der chinesischen Republik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bald nach der chinesischen Revolution von 1911, die zum Sturz des Kaisserreichsgeführt hatte, war es zur Errichtung eines autoritären Regimes gekommen.Daraufhin zerfiel die nationale Einheit Chinas. Sun Yat-sen, der führende Kopf der revolutionären Kräfte, machte das fehlende nationale Selbstbewusstsein der Chinesen für diese Entwicklung verantwortlich. Geteilt wurde seine Diagnose von vielen chinesischen Intellektuellen, die durch die Einschätzungen westlicher Beobachter beeinflusst waren. Diese bescheinigten den Chinesen damals eine zivilisatorische Unreife. Die westlich geprägten Eliten kritisierten unter anderem einen Mangel an öffentlichen Tugenden, das Fehlen von Verantwortungsbewusstsein, Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein, Patriotismus und Solidarität.
Felix Lee, Blogger und China-Korrespondent der taz, der an der Diskussionsrunde teilnahm, erinnerte daran, dass die Ereignisse von 1989 im sich auflösenden Ostblock zunächst jene chinesischen Hardliner stärkten, die jede Öffnung ihres Landes gen Wetsen verhinderten. Die demonstrierenden Studenten hätten damals allerdings keinen politischen Umsturz zum Ziel gehabt, sondern eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Lee glaubt im Gegensatz zu vielen Beobachtern in China und der Welt, dass damals eine politische Liberalisierung möglich gewesen wäre, ohne dass das Land im Chaos hätte versinken müssen. Er hält die oft artikulierte Behauptung, dass die Besonderheiten der chinesischen Kultur eine Einführung von Menschenrechten in besonderem Maß erschwere, für falsch. Menschenrechte seien universell - auch Chinesen wollten nicht unterdrückt werden.
Lee sieht allerdings keinen Sinn darin, dass der Westen die Durchsetzung dieser Grundrechte in China mit erhobenem moralischem Zeigefinger anmahne. Die Chinesen nähmen sehr deutlich wahr, wie Menschenrechte politisch instrumentalisiert werden. Zudem werde der Westen bei der Verteidigung dieser Menschenrechte, insbesondere die USA in ihrem "Krieg gegen den Terror", immer unglaubwürdiger. Wirken könne der Westen nur durch das eigene Vorbild. Auch Vogelsang erinnerte daran, dass die Europäer über wenig historische Legitimation verfügten –die Briten etwa hätten im 19. Jahrhundert China mit Krieg überzogen und dieses Vorgehen mit dem Recht auf freien Handel legitimiert. Grundlegend hielt Vogelsang fest, dass bei der Analyse der politischen und ökonomischen Verhältnisse Chinas gängige wissenschaftliche Maßstäbe angelegt werden sollten ohne Spekulationen über eine vieltausendjährige "chinesische Kultur" anzustellen: "China ist nicht unergründlich", erklärte Vogelsang.
Karl-Ludwig Baader