"Die Einwanderungspolitik steckt in einer Legitimationskrise"
Die Ergebnisse der Europawahlen unterstreichen die Brisanz des Migrationsproblems. Auf einem Herrenhäuser Forum versuchten Experten, den Ängsten mit rationalen Argumenten beizukommen.
Die schwierige deutsche Zuwanderungsdebatte
Zum Auftakt des Abends im Schloss Herrenhausen hielt der Migrationsforscher Prof. Dr. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung einen Impulsvortrag, in dem er von einer "Legitimationskrise der Einwanderungspolitik" sprach. Brückers Ausführungen zufolge gibt es in den meisten europäischen Ländern nur knappe Mehrheiten für die Zuwanderung und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Er identifizierte dabei zwei wesentliche Ängste: Zum einen werde befürchtet, dass die Einheimischen mit den Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt um Jobs konkurrieren würden und dies die Löhne drücke; zum anderen bestehe die Sorge, dass die Zuwanderung den Wohlfahrtsstaat belaste.
Ein gemeinsamer Währungsraum braucht hohe Arbeitsmobilität
Brücker gab zu bedenken, dass "ein hoher Grad von Arbeitsmobilität" das "wichtigste Kriterium für einen optimalen Währungsraum" sei. Wegen des Baubooms erlebte Spanien vor einiger Zeit noch die größte Zuwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von acht Jahren war die Zahl der Einwanderer von zwei auf sechzehn Prozent gestiegen. Hohe Einwanderungsraten wiesen auch Griechenland (aus Albanien) und Irland (aus Osteuropa) auf. Die Eurokrise habe die Migrationsströme jedoch nach Deutschland umgelenkt, das wirtschaftlich am meisten von dieser Krise profitiert habe. Kamen im vergangenen Jahrzehnt 95.000 Arbeitskräfte jährlich nach Deutschland, so waren es allein im vergangenen Jahr 440.000.
Die kurz-, mittel- und langfristigen Vorteile der Zuwanderung
Kurzfristig habe diese Wanderung die Arbeitslosigkeit in gesamt Europa gemindert. Mittelfristig führten die Wanderungsbewegungen innerhalb von Europa zu einem volkswirtschaftlichen Gewinn – und damit effektiv zu einer Steigerung des Bruttosozialproduktes der EU. Langfristig, so erklärte Brücker, verringerten sie die Einkommensunterschiede und wirkten sich positiv auf den demographischen Wandel in Deutschland aus. Die Befürchtung, dass mit der Arbeitswanderung die Arbeitslosigkeit hierzulande steige, treffe nicht zu. Bei der aktuellen Entwicklung hätten die einheimischen Deutschen gewonnen, die Verlierer seien bislang die hier schon länger lebenden Einwanderer. Sie seien häufiger arbeitslos, was sich auch auf den Hartz-IV-Bezug auswirke; aufgrund ihrer jüngeren Altersstruktur zahle die Gruppe der nicht gut integrierten Einwanderer jedoch mehr in die Kassen ein, als sie bekomme. Entgegen der allgemeinen Auffassung profitiere daher der Sozialstaat von der derzeitigen Situation.
Die Netzwerke von Zuwanderern – notwendig, aber auch problematisch
Bei der an den Vortrag anschließenden Podiumsdiskussion waren sich Prof. Dr. Annette Treibel, Dr. Holger Kolb und Prof. Dr. Herbert Brücker über eines einig: Die Ergebnisse der Europawahlen zeigen, dass nicht nur die Deutschen "schwierige Zuwanderungsdebatten" führen. Diese verlaufen in vielen anderen europäischen Ländern derzeit sogar weitaus dramatischer. Die Fachleute auf dem Podium betonten denn auch, dass in den vergangenen Jahren hierzulande Fortschritte im Umgang mit der Einwanderung gemacht wurden, von den Integrationskonzepten bis zur Gesetzgebung. Brücker warnte vor problematischen Wirkungen von Einwanderernetzwerken. Er verwies darauf, dass nur 12 Prozent der einwandernden Arbeitskräfte offiziell vermittelt würden, während 70 Prozent über Freunde und Bekannte ihre Arbeit fänden. Das habe zur Folge, dass sie hauptsächlich in wenig qualifizierte Arbeit mit höherem Arbeitslosigkeitsrisiko vermittelt würden, etwa in die Landwirtschaft oder die Gastronomie und damit oft unter ihrer Qualifikation beschäftigt seien. Das wirke sich integrationshemmend aus. Die Karlsruher Sozialwissenschaftlerin Annette Treibel, Sprecherin der Sektion "Migration und ethnische Minderheiten" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, bestand dagegen auf der positiven Funktion von Netzwerken. Sie seien wichtig für die Dynamik des Migrationsprozesses. Man ziehe dorthin, wo schon Freunde und Landsleute seien. Auch die deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert hätten sich nicht anders verhalten und hätten lange ihre Muttersprache gepflegt. Selbstverständlich müsse aber auch die neue Sprache gefördert werden. Treibel unterstrich, dass man hierzulande die deutsche Integrationsleistung unterschätze – und verwies zum Vergleich auf die massiven Probleme der Banlieues in Frankreich. In Deutschland habe man in den vergangenen Jahrzehnten viel dazugelernt, viele dabei entwickelte Mechanismen der Integration würden greifen. Als positiven Indikator verwies sie etwa auf türkischstämmige Kabarettisten, die mit ihren Witzen über die "Bio-Deutschen" ihre Zugehörigkeit demonstrierten.
Fortschritte in der Gesetzgebung
Auch Holger Kolb, Mitarbeiter beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration verwies auf Fortschritte und hob hervor, dass Deutschland aufgrund von Gesetzesänderungen eines der liberalsten Einwanderungsländer der OECD sei. Brücker lobte zwar Verbesserungen bei der Blue-Card-Regelung, die hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in der EU ermöglicht, den dabei festgelegten Mindestverdienst hält er aber für viel zu hoch. Gerade "die, die wir brauchen", Hochschulabsolventen, also Berufsanfänger, könnten ein so hohes Einkommen noch nicht erzielen.
"Einwanderungspolitik wird überschätzt"
Brücker verwies darauf, dass Einwanderung selbst bei einer verbesserten Politik schwer zu steuern sei. Die höhere Flexibilität auf dem heutigen internationalen Arbeitsmarkt hänge beispielsweise mit veränderten Verkehrsströmen und verbilligten Transportkosten zusammen. Auch für Kolb ist Einwanderungspolitik nur ein Faktor von vielen. Es spielten auch Aspekte wie das Wetter und die Sprache eine Rolle, vor allem aber die Willkommenskultur oder die Steuergesetze. Die Wissenschaftler sprachen sich gleichwohl für eine zügigere Anerkennung der ausländischen Berufs- und Hochschulabschlüsse und für ein verbessertes "Zuwanderungsmarketing" (Kolb) aus.
Experten und die breite Öffentlichkeit — das Nebeneinander zweier Diskurse
Die Wissenschaftler plädierten einstimmig für eine Zuwanderung aus ökonomischen oder demographischen Gründen. Sie waren sich aber sehr wohl der Differenz der Diskurse bewusst, die einmal unter Experten, zum andern in einer breiteren Öffentlichkeit geführt werden. So hat Treibel den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft noch nicht klar ist, dass wir längst ein Einwanderungsland sind. Es werde immer noch eher von "Ausländern" als von "Einwanderern" gesprochen. Vielen sei nicht bewusst, dass längst ein türkischstämmiger Mittelstand entstanden sei oder dass es auch im akademischen Bereich "viel Bewegung" gebe. Gegen Vorurteile und Überfremdungsängste sei schwer anzukommen, so die Experten. Um gegen die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen, bräuchten wir "mehr als nur knappe Mehrheiten", betonte Brücker. Ihn beunruhigt, dass selbst in einem prosperierenden Land wie der Schweiz Zuwanderung abgelehnt werde. Zudem könne jederzeit die Stimmung schnell kippen, wie sich in Großbritannien gezeigt habe, wo vor einiger Zeit noch ein gutes Klima für Einwanderung geherrscht habe.
Probleme müssen offen angesprochen werden
Die Experten waren sich einig, dass die "erheblichen Integrationsprobleme" (Brücker) nicht unter den Tisch gekehrt werden dürfen. Kolb sieht mit Blick auf die Sarrazin-Debatte oder die populären Auftritte des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky allerdings eine "Medienlogik" wirken: Man berichte lieber über das, was nicht funktioniert, als über die erreichte Normalität. Auch Treibel sieht viel Skepsis bei den Bürgern, aber auch viel Pragmatismus im Alltag. Man dürfe auch keine Angst vor der wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Einwanderung haben. Sie machte eine Gefahrenquelle aus, die in diesem Zusammenhang selten thematisiert wird: die zunehmende soziale Ungleichheit. Kolb sieht vor allem Handlungsbedarf im Bildungsbereich. Die soziale Herkunft spiele in Deutschland für den Bildungserfolg eine viel zu große Rolle, davon seien gerade Migranten überdurchschnittlich betroffen. Am Ende wagte Treibel einen optimistischen Ausblick: In 20 Jahren, so ihre Prognose, sähen wir auf unsere Gegenwart als einer Zeit des Übergangs zu einer Einwanderungsgesellschaft zurück. Karl-Ludwig Baader