Die Suche nach der Balance
Der Mensch in der Moderne ist überfordert: Er kommt mit der wachsenden Unsicherheit und Komplexität nicht zurecht. So klagen die einen. Nein, entgegnen die anderen: Unsicherheit ist eine Voraussetzung von Freiheit, sie schafft Spielraum und Wahlmöglichkeiten, Überregulierung dagegen hemmt Kreativität. Was nun? Zuviel oder zuwenig? Oder gilt es, eine Balance von Sicherheit und Unsicherheit zu entwickeln? Oder hängt es von dem Lebensbereich ab, welches Maß an Unsicherheit zuträglich ist? Mit solchen Beobachtungen und Überlegungen beschäftigte sich das von der VolkswagenStiftung und NDR Kultur veranstaltete, von Stephan Lohr moderierte Herrenhäuser Gespräch unter dem Titel "Ungewissheit – Eingeständnis oder Kalkül?".
, Professorin für Gender und Design und für Designforschung an der Köln International School of Design, betonte mit Emphase den Freiheitsgewinn durch Ungewissheit und glaubt, dass wir ohnehin die Sicherheit überschätzten. Sie bezog sich dabei auf ein Beispiel aus unserem überregulierten und übersicherten Alltag: Als zur gleichen Zeit und am gleichen Ort das Navi in den Autos überraschend ausfiel, wie vor einiger Zeit in Frankfurt geschehen, verfielen die Autofahrer in Panik und zeigten sich hilflos. Heute gewinne Desorientierung eine neue Qualität, damit Menschen wieder lernten, sich selbst zu orientieren. Den Boom der Extremsportarten deutete Brandes als Suche nach neuer Unsicherheit. In Gefahrensituationen könne man sich wieder lebendig fühlen. Armin Grunwald vom Karlsruher Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse schätzt an der Unsicherheit, die durch die Offenheit und Unberechenbarkeit der Zukunft entsteht, dass die Wahlmöglichkeiten für die Menschen zunehmen.
Freilich stellt sich der freiheitsfördernde, der emanzipatorische Effekt von Unsicherheit nicht unter allen Bedingungen und in allen gesellschaftlichen Lagen ein. Das betonte der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Er verwies auf die in den vergangenen Jahren gewachsene unsichere Lage von abhängig Beschäftigten, etwa im Niedriglohnbereich. Hier stimme das Verhältnis von Risiko und Chance nicht mehr. Statt von Individualisierung müsse von Vereinzelung gesprochen werden. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die damit verbundene Unsicherheit hat demnach nicht zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Abhängigkeit geführt. Hickel verwies auf die Gefahren, die daraus der Demokratie entstünden, und forderte für diesen Bereich eine „Reregulierung“. Zudem dürfe das Rentensystem und damit die soziale Absicherung nicht den Risiken des Finanzmarktes ausgesetzt werden. Die Ursachen für diese gefährliche Fehlentwicklung sieht Hickel in einem Paradigmenwechsel, den er vor zehn Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Die Finanzwirtschaft entwickle sich zu einem Kasinosystem - ein Begriff, den der britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes schon 1936 prägte. Die Kalkulierbarkeit habe in der Wirtschaft dramatisch abgenommen, seit sich die Finanzmärkte verselbständigt hätten und ihre Spekulationen keine Rücksicht auf die Realökonomie mehr nähmen. Kaum eine der Determinanten der Wirtschaftswissenschaft stimme heute noch, etwa die, dass hohe Gewinne zu hohen Investitionen führten. Hickel forderte für die Zukunft „dienende Banken“, die die regionale Wirtschaft vor Ort mit Geld versorgten. Um Ungewissheit einzuschränken, fordert er Entschleunigung bei Börsengeschäften: Dort träfen heute nicht mehr Menschen, sondern mathematische Programme in Nanosekunden Kauf- oder Verkaufsentscheidungen – auf Kosten der Kalkulierbarkeit.