Forum über Kindergesundheit: Ernst nehmen und Grenzen setzen
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Medienkonsum, Lebensqualität, sozialem Status sowie psychischer und physischer Gesundheit von Kindern?
Grund zur Verunsicherung?
Der weihnachtliche Naschteller eröffnete den Abend als starkes Bild für den möglichen Umgang Erwachsener mit Angeboten und Grenzen für Kinder. Katja Ebeling von der VolkswagenStiftung erinnerte sich daran, wie wichtig die besondere Süßigkeitenauswahl der Oma für sie früher war. Und fragte sich, ob sie bei ihrer Tochter zu Unrecht mit dieser Tradition gebrochen hat. "Nicht nur ich werde die Diskussion auch mit einem Mutter-Ohr verfolgen", bekannte sie. Und wies darauf hin, wie sehr sich viele Menschen bei der Erziehung von einer sich rasch verändernden Lebenswelt verunsichern lassen. Dabei sei eine defizitorientierte Perspektive gar nicht immer angebracht: "Vielleicht gehen wir heute ja auch ganz entspannt nach Hause."
Die großen Fragen
Dieses Herrenhäuser Forum, erklärte Ebeling, knüpfe an eine
Fachveranstaltung an, welche die VolkswagenStiftung im September 2014 in Kooperation mit dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie zu Referenzwerten und Risikofaktoren für kindliche Gesundheit durchführte. Moderatorin Rabea Rentschler, Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der Zeitschrift "Gehirn und Geist", betonte gleich zu Beginn, wie umfangreich das Thema Kindergesundheit sei. "Keiner kann hierzu alles wissen, die Experten kennen ihre jeweiligen Grenzen", erklärte sie. Neben Ernährung, Medienkonsum, Familienleben und sozialem Status ginge es außer um medizinische Aspekte schließlich auch um die großen Fragen nach Lebensqualität und -freude der Kinder, erinnerte Rentschler.
Entstehung von Übergewicht
Die Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Kindergesundheit stellte Prof. Dr. Wolfgang Ahrens vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er bezog sich dabei auf
die große europäische Längsschnitt-Studie IDEFICS (später
"ifamily"). In deren Rahmen wurde ein Interventionsprogramm zu Ernährung, Bewegung, Stress und seelischem Wohlbefinden entwickelt und dessen Ergebnisse mit den Daten von Kontrollgruppen verglichen. Somit erhielten die Wissenschaftler, die die Studie durchgeführt haben, umfangreiche Daten zur Entstehung von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern. Deutschland liege mit etwa elf Prozent übergewichtigen und etwa fünf Prozent fettleibigen Kindern unter zehn Jahren im europäischen Mittelfeld, so Ahrens.
Einfluss der Medien
"Die Frage, ob Medienkonsum das Übergewicht bei Kindern ursächlich beeinflusst, kann die Forschung heute klar mit ja beantworten", verdeutlichte Prof. Dr. Wolfgang Ahrens. Das Risiko steige zum Beispiel mit der Dauer des Fernsehkonsums. Die Faktoren seien vielfältig: Mangelnde Bewegung und Stressbelastung können sich ebenso auswirken wie werbebedingte Nahrungsauswahl und ein Überkonsum durch Zwischensnacks. "Gerade durch den Konsum privater Sender mit aggressiver Werbung steigt auch das Verlangen nach Softdrinks und Süßigkeiten", führte Ahrens aus. Studien zeigten das anhand der so genannten "Pester-Power", also der Häufigkeit, mit der Kindern beim Einkaufen bestimmte Produkte erbetteln. "Eltern können und müssen hier Grenzen setzen", empfahl Ahrens. Darüber hinaus riet er konsequent: "Kein Fernsehgerät im Kinderzimmer. Und möglichst wenig Werbung beim Schauen."
Haben und Brauchen
"Was sie haben und was sie brauchen" hatte Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort seine Präsentation betitelt. Er ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und versucht, wo immer es geht aus der Perspektive von Kindern zu urteilen. Bei seiner Arbeit gehe es ganz einfach um Beziehungen zwischen großen und kleinen Menschen, erklärte Schulte-Markwort: "Kinder sind nachdenklich und reflektiert, sie wollen ernst genommen werden."
Zunächst sei es ja auch eine gute Nachricht, dass etwa 80 Prozent der deutschen Kinder psychisch unauffällig seien. Dennoch müsse man gerade die Zusammenhänge zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit und vor allem auch sozioökonomischem Status ernst nehmen. "Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer – und damit steigen auch die Auffälligkeiten in sozial schwachen Familien", warnte Schulte-Markwort.
Vertrauen statt Vorurteile
Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort hält eine Prävention durch das Screening von Kindern bezüglich Risikofaktoren für möglich. "Die Schulbehörden haben aber keine Ressourcen, um mit den Ergebnissen umzugehen", war seine Erklärung dafür, warum in diesem Bereich nichts unternommen werde. Viel hänge vom Familienklima ab. Sei das gut, halbiere sich das Risiko für depressive oder Angstsymptome. Das Risiko für gestörtes Sozialverhalten sinke sogar auf ein Viertel. Schulte-Markwort ist sicher: "Eigentlich brauchen wir ein Schulfach, das auf das Leben als Eltern vorbereitet." Der Skandal sei, dass psychische Erkrankungen bei Kindern nicht abgenommen haben, obwohl man ihr Auftreten beeinflussen könnte. "Hinweise auf deren Zunahme durch die Medien gibt es aber nicht", relativierte Schulte-Markwort. Entsprechenden Warnungen und Schwarzmalereien von Kollegen, die meist gar nicht auf Kinder spezialisiert seien, müsse er deshalb energisch widersprechen. Er glaube nicht an die Erwachsenenvorurteile, kindliche Kommunikation oder Beziehungen würden sich durch digitale Medien verschlechtern. "Die Dinge ändern sich, aber wir müssen den Kindern vertrauen, dass sie das hinkriegen", plädierte er.
Frühzeitig eingreifen
Auch Dr. Johann Böhmann, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Delmenhorst, ist kein Pessimist. Er riet, sich zum Beispiel anhand der in Werner Herzogs Film "Cave of the Forgotten Dreams" gezeigten, über 48.000 Jahre alte Höhlenmalereien davon zu überzeugen, dass die menschliche Kultur bereits seit sehr langer Zeit ein hohes Niveau erreicht habe. "Unser Gehirn hat sich seither nicht groß verändert, eher die Umgebungsfaktoren", erläuterte er.
Der Mensch habe sehr gute Möglichkeiten zur Selbstregulation. Wo diese nicht mehr greifen, wie bei extremem Übergewicht, sei Prävention wichtig, ist Böhmann überzeugt. "Man könnte die Risiken schon bei Schwangeren sehen", erklärte er. Die Epigenetik wisse heute, dass der Stoffwechsel schon in der Schwangerschaft geprägt wird und sich ein Hang zu großem Übergewicht bei der Mutter so auf das Kind übertragen könne. Böhmann glaubt: "Man könnte ein Kind schon in den ersten Lebensjahren durch bestimmte Geschmackspräferenzen impfen – je eher desto besser und billiger."
Verbot oder Vorbild?
Rabea Rentschler fragte schließlich nach Konsequenzen aus den vorgetragenen Positionen: "Brauchen wir Regeln und Verbote? Müssen wir Fernseher und Süßigkeiten abschaffen?" Prof. Dr. Wolfgang Ahrens sprach sich für eine Steuerung aus. Die Umwelt passe nicht mehr zu unserem genetischen Profil. "Der Mensch braucht Hilfestellungen, sich entsprechend seinem Bauplan zu entwickeln", forderte er. Und stellte fest: "Laissez faire lässt die Kinder alleine." Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort hielt dagegen: "Wir müssen den Kindern alles in Ausgewogenheit anbieten und ihnen dann vorleben, was gut schmeckt und gesund ist." Es ginge auch darum, eigenverantwortliches Handeln zu erlernen. Das gelte auch für Katja Ebelings Beispiel mit dem Naschteller. "Außerdem hatte er eine soziale Bedeutung als Kennzeichen der Beziehung zur Oma", argumentierte Schulte-Markwort. Dr. Johann Böhmann ergänzte: "Notfalls müssen wir sozial schwachen Familien bei der Vorbildfunktion helfen." Durch die zeitweise Betreuung von Kindern in Krippen oder Kitas könne Verhaltensmustern etwas entgegengesetzt werden.
Blick nach vorn
Prof. Dr. Wolfgang Ahrens forderte das Schaffen von Möglichkeitsräumen. Eine Gesellschaft der Inaktivität brauche Orte in der Nachbarschaft, an denen Kinder ihren Bewegungsdrang ausleben können. Auch Dr. Johannes Böhmann empfiehl, nicht durch falsche Umgebungen auszubremsen, was im natürlichen Verhalten angelegt ist. Allerdings betonte er auch: "Die Gehirne unser Kinder in der nächsten Generation werden andere sein. Damit müssen wir leben." Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort stimmte Böhmann zu. Wenn sich die Grobmotorik zugunsten der Feinmotorik verschlechtere, könne das auch Teil einer Entwicklung sein. Er führte aus: "Bullerbü-Romantik hilft nicht weiter. Auch Lindgrens Häuser haben heute Internet." Und kam zu dem Schluss, es gebe keine Anhaltspunkte für einen "Verfall der Sitten".
Wünsche und Forderungen
Rabea Rentschler bat zum Abschluss um die Vervollständigung des Satzes "Unsere Kinder brauchen..." Sie selbst schlug vor: "...selbstbewusste Eltern". Prof. Dr. Wolfgang Ahrens wünschte sich: "...die Freiheit, sich bewegen zu können". Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort forderte: "...sichere Beziehungen". Und Dr. Johannes Böhmann fokussierte auf: "...Vorbilder". Thomas Kaestle