Herrenhäuser Forum über die Werkstoffe der Zukunft
Überall gibt es neue Materialien: in Autos, Flugzeugen, Fernsehern, Handys und Kleidung. Sie dienen dazu, Produkten einen Mehrwert durch höhere Stabilität, weniger Gewicht, größere Flexibilität oder geringeren Stromverbrauch zu verleihen. Darüber hinaus lassen sich durch den Einsatz der Stoffe Ressourcen schonen oder gänzlich neue Funktionalitäten entwickeln.
Welche sind schon heute erhältlich oder stehen vor der Markteinführung? Wie sieht es mit der Umweltverträglichkeit und dem Recycling solcher Materialien aus? Stellen sie die Menschheit gar vor bislang unbekannte Probleme?
Diese Fragen debattierten fünf Experten am 24. Oktober in Hannover auf dem Herrenhäuser Forum Mensch-Natur-Technik mit dem Titel "Still Living in a Material World – Woraus bauen wir die Zukunft?".
Prof. Dr. Paul Blom, Direktor des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung, gab einen Einblick in die Welt der Kunststoffe und ihrer Anwendungen. Ein Praxisbeispiel: Flachbildfernseher werden schon bald durch dünne und hochflexible Displays abgelöst. "Organische Elektronik" heißt hier das Stichwort. Die aktuellen Entwicklungen auf diesem Gebiet ermöglichen bereits heute, dass organische Polymere (auf Kohlenstoff basierende Verbindungen, die Strom leiten können) auf verschiedene Untergründe wie etwa dünne Kunststofffolien gedruckt werden. Analog zum Rolle-zu-Rolle-Druckverfahren für Zeitungen entstehen durch das Drucken der organischen Polymere auf Folien Displays, die extrem dünn und vor allem mechanisch flexibel und robust sind. "Fernseher von zwei bis drei Millimeter Dicke lassen sich damit problemlos herstellen", sagte Blom. Eine südkoreanische Firma stehe sogar kurz vor der Markteinführung eines solchen Fernsehers. Diverse andere Firmen arbeiteten daran, die Effizienz der Druckverfahren zu erhöhen. Denn nur durch optimierte Herstellungsverfahren lassen sich die Produktionskosten und damit gleichzeitig die Anschaffungskosten für den Konsumenten verringern; zum Zeitpunkt der Markteinführung dürften die neuen Geräte noch sehr teuer sein.
Weitere Anwendungsmöglichkeiten für organische Elektronik sind intelligente Sensoren. Konkret lassen sich beispielsweise Kältesensoren realisieren, die auf Lebensmittelverpackungen angebracht werden. So würde eine lückenlose Kühlkettennachverfolgung möglich. "Pro Jahr müssen weltweit Lebensmittel im Wert von rund 40 Milliarden Dollar wegen einer mangelhaften Kühlkette entsorgt werden", berichtete Blom. "Diese Verluste ließen sich durch intelligente Etiketten mit integrierter Sensorik vermeiden."
Heute spüren, was morgen wichtig wird
Innovative Kunststoffe mit neuen Funktionalitäten sind auch für Wolfgang Müller-Pietralla von Bedeutung. Er ist Leiter der Abteilung Zukunftsforschung und Trendtransfer bei der Volkswagen AG und muss sich in seinem Beruf immer wieder die Frage stellen, wie sich die Lebensumstände der Menschen in der Zukunft ändern werden: "Wir versuchen nachzuempfinden, zu fühlen und sogar zu berechnen, wie der Alltag in 20 Jahren aussehen wird: Welche Materialien passen dann zu unseren Gewohnheiten und Bedürfnissen? Wonach sehnen wir uns, was begehren wir?". Müller-Pietralla sieht Forschung und Entwicklung in einem ständigen dynamischen Prozess, bei dem sich die Errungenschaften und Techniken im Bereich der Materialien "wie ein Chamäleon" den Bedürfnissen der Menschen anpassen – und nicht umgekehrt.
"Ein großer Hype derzeit sind Sonderwerkstoffe. Diese haben zum Beispiel ein Formengedächtnis", erläuterte Müller-Pietralla. Sie verändern beispielsweise durch Temperatureinfluss ihre Geometrie, besitzen aber die Eigenschaft, dass sie danach wieder in ihre Ausgangsform zurückkehren. Für den Autobau ist diese Eigenschaft ebenso von Bedeutung wie selbstheilende Lacke. Aber auch in anderen Branchen, etwa bei Medizinprodukten, können intelligente Materialien künftig einen hohen Stellenwert einnehmen.
Häufig, so berichtete Paul Blom, sind neue hochfunktionale Materialien eher zufällige Entdeckungen. Auch die Simulation am Computer mit dem Versuch der Vorhersage ihrer Eigenschaften ist inzwischen weit verbreitet. Allerdings sei bei beiden Verfahren immer die Frage nach der Lebensdauer, mechanischen Stabilität und weiteren Faktoren zu beantworten, was nur durch intensive Tests möglich sei.
Klassische Materialien mit neuen Funktionalitäten
Nicht nur die Welt der Kunststoffe erfährt ständig Innovationen. Auch für ein scheinbar gut erforschtes Gebiet wie die Stahlherstellung gibt es etliche Neuentwicklungen. "Die Hälfte der Stähle, die in einem Auto verbaut sind, hat es vor zehn Jahren noch gar nicht gegeben", konstatierte Dr. Robert Spatschek, Gruppenleiter Mesoskale Simulationen am Max-Planck-Institut für Eisenforschung. "Die Anforderungen an diese Spezialstähle sind vielfältig: Sie müssen beispielsweise besonders fest oder besonders formbar sein, je nach Anwendung." Durch Zugabe von Legierungen, durch das Einbringen von Mikrostrukturen oder ähnliche Maßnahmen erzielen die Forscher die gewünschten Eigenschaften. Und die Bedeutung des Stahls ist weltweit nach wie vor groß: "Jährlich werden 1,5 Milliarden Tonnen Stahl produziert – Tendenz steigend", so Spatschek.
Die Vielfalt der Materialien, die heute zum Einsatz kommen, stellen jedoch sowohl Produzenten als auch Konsumenten vor Herausforderungen. Wo Stahl sich noch relativ leicht durch Schmelzen extrahieren lässt, sind neue Verbundmaterialien deutlich schwieriger zurückzugewinnen. Autos lassen sich zu 95 % recyceln – doch was ist mit den übrigen fünf Prozent? "Wichtig ist vor allem, dass die Edelmaterialien zurückgewonnen werden. Bei einigen Stoffen führt das Recycling jedoch zu Qualitätsverlusten. Hier ist dringender Forschungsbedarf, um solche Verluste zu vermeiden", erklärte Müller-Pietralla.
Auch Prof. Dr. Gianaurelio Cuniberti, der eine Professur für Materialwissenschaft und Nanotechnik an der Technischen Universität Dresden innehat, weiß, dass es auf allen Gebieten, nämlich Metallen, Polymeren und Keramiken, interessante Entwicklungen gibt. Beispielsweise gibt es diverse Start-up-Unternehmen, die sich mit dem Material Graphen beschäftigen. Der Werkstoff wurde 2004 das erste Mal isoliert, 2010 haben die Entdecker dafür den Nobelpreis erhalten. Dieses "Wundermaterial", dem so viele Anwendungen und Perspektiven zugeschrieben werden, eröffnet für Wissenschaftler eine aufregende Forschungszeit. "Allerdings", berichtete Cuniberti, "brauchen wir mehr Zeit, um den Werkstoff genau zu erforschen. Die Anwender müssen noch etwas Geduld mit uns haben, ehe wir innovative Lösungen mit Graphen präsentieren können."
Cuniberti kritisierte, dass der Übergang von der Grundlagenforschung in die Anwendung vor allem in Deutschland ein zäher Prozess sei: "Zu Zeiten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gab es eine Brücke zwischen Forschung und Anwendung. Diese fehlt heute, ist aber enorm wichtig." Dieser Aussage stimmte auch Paul Blom zu: "Viele Produkte werden in Europa entwickelt, aber in Asien produziert. Die Verknüpfung von Wissenschaft und Anwendung funktioniert hierzulande nicht sehr gut – es gilt, sie dringend zu verbessern!"
Tina Walsweer