Kunst ohne Kontinuitäten?
Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Gespräch am 16. Juli 2015
"Stunde Null? Radikale Neuanfänge in Musik, Kunst und Literatur" mit Dr. Ruth Heftrig, Kunsthistorikerin, Sichtwechsel – Agentur für Kunst und Kunstgeschichte, Prof. Dr. Friedrich Geiger, Musikwissenschaftler, Universität Hamburg, Prof. Dr. Volker Wehdeking, Literaturwissenschaftler, Hochschule der Medien, Stuttgart, Dr. Helmut Böttiger, Literaturkritiker, Autor des Buchs "Die Gruppe 47" und Moderator Dr. Ulrich Kühn, NDR Kultur.
Nach dem Ende kam der Anfang. Der Zweite Weltkrieg war vorbei, das Land lag in Trümmern, existenzielle Sorgen prägten den Alltag. Das ganze Leben musste neu organisiert werden, und auch Kunst und Kultur standen vor dem Neubeginn. Gab es eine Stunde Null für Künstler, Musiker oder Schriftsteller? Wie wurde sie genutzt? Die Teilnehmer des Herrenhäuser Gesprächs stellten sich diesen Fragen und zeigten die Entwicklungswege avantgardistischer Künstler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf, indem sie Ursprüngen und Einflüssen nachspürten. Ist Kunst überhaupt fähig, sich radikal zu erneuern? Das beurteilten die Experten aus den verschiedenen Bereichen künstlerischen Schaffens zunächst unterschiedlich – und fanden doch im Laufe der Podiumsrunde immer mehr Gemeinsamkeiten. Zwischen den Themenkomplexen trug Schauspieler Rainer Frank zeitgenössische Texte und Gedichte vor.
"Aus der Perspektive der Musikgeschichte gibt es keine Stunde Null, und wenn, dann nur eingeschränkt", betonte der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Friedrich Geiger von der Universität Hamburg. Die Gründe hätten spezifisch mit Musik zu tun, die grundsätzlich enorme Kontinuitäten vorzuweisen habe. Wie sollte eine Entnazifizierung auch stattfinden, wenn breiter Konsens herrschte, dass die deutsche Musik mit ihren großen Komponisten wie Bach oder Beethoven die beste der Welt ist? Politik und Musik lassen sich zudem sehr gut trennen. Entnazifizierungsaktivitäten wurden so selbst von Nazi-Gegnern häufig als Eingriff in die Kunst verstanden. Als Beispiel nannte Geiger die unterstützende Ehrenerklärung des jüdischen Komponisten Arnold Schönberg für seinen antisemitischen Kollegen Hans Pfitzner, als dieser sich vor der Spruchkammer rechtfertigen musste.
In der Bildenden Kunst sei eine Festlegung auf eine Stunde Null 1945 ähnlich problematisch, erläuterte Kunsthistorikerin Dr. Ruth Heftrig. Schließlich hätten die unterschiedlichsten Künstler im Land auch während des Krieges im stillen Kämmerlein weitergearbeitet. Doch diejenigen, die während des Krieges im Land geblieben waren, hätten den Anschluss an die internationalen Entwicklungen verloren. Einen radikalen Neuanfang habe es dennoch nicht gegeben, da viele an die Zeit der Weimarer Republik anknüpfen wollten. Jedoch ganz so abgegrenzt wie die Musik sei die Kunst von der Politik –und damit vom Nachkriegsalltag – aber nicht gewesen, bemerkte Heftrig. Die Künstler nahmen die zerstörten Städte bewusst wahr, auf Fotos und Gemälden hielten sie das Tagesgeschehen fest und nahmen so auch die Opferperspektive ein. – Ein Phänomen, das zur gleichen Zeit auch in der deutschen Literatur zu finden war.
Über die ‚schreibenden Künstler‘ berichteten schließlich der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Volker Wehdeking von der Stuttgarter Hochschule der Medien und Dr. Helmut Böttiger, Literaturkritiker und Autor des Buchs "Die Gruppe 47". Zunächst, so Wehdeking, habe es im Land kaum bekannte Autoren gegeben, der Literaturbetrieb lag danieder. Insofern könne man von einer relativen Stunde Null sprechen. Böttiger wies darauf hin, dass zunächst noch ältere Autoren wie Frank Thiess oder Rudolf Alexander Schröder, die heute fast vergessen seien, das Feld der Literatur beherrschten und für eine gewisse Kontinuität sorgten. Die Mitglieder der Gruppe 47 dagegen, die mit dem Schreiben und der literarischen Auseinandersetzung auch aus politischen Motiven heraus begonnen hatten, könnten aus heutiger Sicht durchaus für einen Neuanfang stehen. Gemein ist den verschiedenen Künsten nach den Kriegsjahren die Beschäftigung mit dem eigentlichen Handwerk und dem Formellen, stellte die von Dr. Ulrich Kühn moderierte Expertenrunde im weiteren Verlauf fest. So entstand etwa das Konzept der seriellen Musik, in der – vereinfacht gesagt – alle musikalischen Parameter vororganisiert werden, wie Geiger erklärte. Das Ergebnis war eine durchaus gewollte, gewisse Hermetik, um die Musik vor Ideologisierung abzuschotten. Heftrig entdeckte darin Parallelen zu der Entwicklung der wieder erstarkenden abstrakten Kunst. "Auch hier ging es zunächst deutlich um die formalen Eigenschaften eines Bildes und damit in gewisser um Entideologisierung", berichtete sie. Für die Literatur wusste Böttiger zu berichten, dass auch der Gruppe 47 in ihrer Anfangszeit die Auseinandersetzung mit dem Handwerklichen sehr wichtig war.
Gemeinsamkeiten gab es auch in der zeitgenössischen Kritik, in der Kontinuitäten aus der NS-Zeit zu beobachten waren. Geiger zitierte den Musikkritiker Walter Abendroth, der in seine Auseinandersetzung mit jüdischen Komponisten wie Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn Bartholdy deutliche antisemitische Anspielungen einfließen ließ. Für die Bildende Kunst ergänzte Heftrig, dass sie dabei sofort etwa an den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr denken musste, aus dessen Nachkriegswerken man ähnliche Stellen hätte zitieren können.
Böttiger stellte abschließend für die Literatur fest, dass es durchaus Veränderungen gegeben habe: "Die Jungen haben gezeigt, dass man mit Sprache tatsächlich Widerstand erzeugen und Prozesse in Gang setzen kann." Für die Kunst der Zeit nach 45 bilanzierte Heftrig positiv, das sie deutlich gemacht habe, wie stark zuvor Verdrängung stattgefunden habe. In seinem Bereich, der Musik, konnte Geiger keine solchen Aufbruch sehen. Die Abriegelung der zeitgenössischen Musik habe letztlich zu einer großen Kluft zwischen Komponisten und Publikum geführt, "aber die scheint sich glücklicherweise im Moment zu schließen."
Stephan Fuhrer