Migration: "Mit dem Gefühl der Bedrohung wächst die Abwehr"
Interview mit der Philosophie-Professorin Claudia Bickmann anlässlich des Herrenhäuser Symposiums "Umbruch durch Migration – ein Neustart für Wissenschaft und Demokratie" vom 16.-17. März 2017 in Hannover.
Wie hoch ist das Integrationspotenzial unserer Demokratie? So lautet eine von vielen Fragen, die Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler, aber auch Initiativen aus der Zivilgesellschaft vom 16.-17. März 2017 in Hannover im Herrenhäuser Symposium "
Deutschland: Umbruch durch Migration? Ein Neustart für die Selbstreflexion in Wissenschaft und Demokratie" diskutieren werden; Anmeldungen für Restplätze sind noch möglich.
Prof. Dr. Claudia Bickmann vom Philosophischen Seminar der Universität Köln wird einen Vortrag in der Sektion "Selbstreflexionsraum Wissenschaft" halten. Mit ihr sprach Christian Jung, Redakteur der VolkswagenStiftung, über die aktuellen Schwierigkeiten auf dem Weg in die multikulturelle Gesellschaft.
Warum ist es für viele hierzulande so schwierig, die Vielfalt durch Zuwanderung als Gewinn zu sehen?
Mehrheitlich erscheint den Menschen in unserem Land Vielfalt nicht als ein Problem. Sie erkennen den Rechtsstaat an, der die Vielfalt auf nahezu allen Ebenen des privaten und öffentlichen Lebens organisiert und die unterschiedlichen Lebens- und Denkweisen auch verfassungsrechtlich garantiert. Demgegenüber artikulieren sich zurzeit diejenigen lautstark, denen die mit der Vielfalt einhergehende "Unübersichtlichkeit" bedrohlich erscheint. An den Rändern unserer Demokratie nimmt ihr Anteil peu à peu zu und droht, in die Mitte der Gesellschaft einzudringen. In vielen Ländern des Westens erwächst dem Rechtstaat daraus eine ernste Gefahr.
Hängt das Ihrer Meinung nach davon ab, wer zu uns kommt?
Wenden wir es einmal so: Man darf nicht übersehen, dass die Gruppierungen an den politischen Rändern hierzulande umso mehr erstarken, je mehr Menschen insbesondere aus solchen Kulturen zuwandern, die ihrerseits mit einer modernen Demokratie samt der durch sie gewährten Freiheiten wenig Erfahrung haben. Nicht allein fehlt es dann wechselseitig an Kenntnis der Sprachen, der kulturellen, religiösen, geschichtlichen und politischen Hintergründe der jeweiligen Herkunftsländer. Die Zuwanderer werden zudem vielfach als Bedrohung für die eigene ökonomische oder gar existentielle Sicherheit erlebt. An die Stelle der mühseligen, aber doch als Gewinn erlebbaren Annäherung tritt so ein Aufschrei der Angst. Fremdheit wirkt bedrohlich. Und mit dem Gefühl der Bedrohung wachsen nicht nur Angst und Abwehr, sondern auch die Unfähigkeit, Angst durch Annäherung zu überwinden.
Es wird so viel über "die Flüchtlinge" gesprochen, dass das Wort allein schon eine Identität schafft und vergessen wird, dass dahinter Menschen stehen, die Biografien, Expertisen und Kompetenzen haben.
Das Problem ist eher, dass der Begriff oft falsch gebraucht oder verstanden wird. Der Titel "Flüchtling" berührt zunächst einmal nur den rechtlichen Status der Menschen als potenzielle Asylbewerber – im Unterschied etwa zu möglichen Ein- oder Zuwanderern, für die es genau festgelegte Einwanderungsgesetze gibt. Erst in einem zweiten Schritt ist es dann Aufgabe der Politik wie der Gesellschaft und ihren Organisationen, der Besonderheit der jeweiligen Einzelschicksale Rechnung zu tragen. Erst auf dem Wege der Aufnahme in ein Asylbewerbungsverfahren gewinnen die Unterschiede ihrer Biographie, beruflichen Herkunft oder Fähigkeiten Bedeutung. In der Tat gewinnen diese dann aber in der Wahrnehmung und Darstellung oft zu wenig an Bedeutung.
Fehlt uns eine Philosophie für ein funktionierendes Miteinander? Vergleichbar jener in den USA, wo es – bislang jedenfalls – heißt: "Jeder ist willkommen – aber durchsetzen musst du dich selbst"?
Strikte Einwanderungsgesetze regeln in den meisten Ländern, wer willkommen ist und wer nicht. Australien und Kanada etwa kontingentieren die Einwanderungswilligen gar nach Berufsgruppen, für die es Bedarf in der eigenen Bevölkerung gibt. Auf diese Weise wird die Zuwanderung individualisiert, mit der Bewilligung des Antrages wird ein jeder dann zugleich zu einem willkommenen Mitglied der Gesellschaft. "Flüchtlinge" – das ist nicht nur ein anderer Begriff, das meint etwas Anderes. Flüchtlinge sucht sich ein Land nicht aus. Flüchtige genießen grundsätzlich Aufenthaltsrechte; wenngleich nur für die Dauer, in der die jeweiligen Herkunftsländer als Kriegs- oder Krisengebiete eingestuft werden. Deutschland hat – nach den Erfahrungen unserer Geschichte – ein besonders großzügiges Asylgesetz. Dieses Asylgesetz selbst ist bereits der Ausdruck einer Grundhaltung unseres Landes gegenüber Vertriebenen oder Verfolgten: Keiner, niemand soll Verfolgung leiden müssen, ohne sich der Aufnahme in unserem Lande gewiss zu sein. Dies kann als unsere Leitidee gelten. Darum sind sogenannte Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen unserer Verfassung auch nicht rechtmäßig.
Hierzulande geht in Medienbeiträgen die Trennschärfe zwischen Extremismus und Religion häufig verloren, also zwischen dem, was der Glaube gebietet und dem, was Terroristen anrichten. Wie kann man auch in der öffentlichen Diskussion für die nötige Differenzierung sorgen?
Solange die Religionen das Zeitbezügliche in ihren Quellenauslegungen nicht deutlich genug vom zeitfrei Tradierbaren trennen, besteht die Gefahr der Legitimation von Gewalt mit Bezug auf einen jeweils zugrundeliegenden "heiligen Text". Es kann dann sogar als Gebot des Glaubens ausgelegt werden, Terror und Gewalt etwa zur Errichtung eines Kalifats einzusetzen. Es liegt darum in der Verantwortung der Religionswissenschaftler und -Gelehrten, die religiösen Texte auf ihre historischen Bezüge hin zu erkunden, und sie nicht mehr unbefragt als Wort Gottes gelten zu lassen. Darum ist es zu einfach, "den Glauben" vor seinem ungerechtfertigten Missbrauch schützen zu wollen, wenn Gewalt und Terror selbst in den heiligen Grundtexten nicht ausgeschlossen werden, sondern mögliches Mittel sind religiöse Ziele durchzusetzen. Dass Toleranz und die Idee des friedlichen Miteinander als ebenso gewichtige Grundhaltung im Koran zum Ausdruck kommen, mag dann zwar für die Mehrheit der Muslime zum eigentlichen Bezugspunkt ihres Glaubens gehören. Doch solange keine entschiedene historisch-kritische Reflexion die Koranexegese bestimmt, bleiben die Tore der Legitimation für Hass und Gewalt mit Bezug auf dieselbe Quelle offen.