Mündige Wege durch den Datendschungel

Wie lässt sich den wachsenden Herausforderungen einer digitalisierten Gesellschaft begegnen? Und was bedeuten die aktuellen Entwicklungen für Bürger und Staat? Veranstaltungsbericht zur 7. Leopoldina-Lecture in Herrenhausen der VolkswagenStiftung in Zusammenarbeit mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina am 10. Februar 2016.

Rechenmaschinen und Konsequenzen

"Für dieses Thema gäbe es kaum einen besseren Paten, als Leibniz", stellte Dr. Henrike Hartmann, Leiterin der Förderabteilung der VolkswagenStiftung, in ihrem einleitenden Grußwort zur Leopoldina-Lecture "Der vernetzte Bürger. Wie verändert die digitale Revolution unsere Demokratie?" fest. Gottfried Wilhelm Leibniz verbinde zum einen den historischen Ort Herrenhausen mit einer langen Tradition des wissenschaftlichen Diskurses. Zum anderen gelte der Erfinder von Rechenmaschine und Binärsystem als der erste Computerwissenschaftler. Hartmann zitierte den Universalgelehrten: "Denn es ist eines ausgezeichneten Mannes nicht würdig, wertvolle Stunden wie ein Sklave im Keller der einfachen Rechnungen zu verbringen." Die Vision, solche Aufgaben an eine Maschine abzugeben, habe sich heute mehr als erfüllt, so Hartmann. "Die digitale Revolution hat unsere Gesellschaft und unser Verhalten verändert." Es sei dabei wichtig, nach interdisziplinären Konsequenzen zu fragen. Und vor allem nach der Verantwortung.

Blick auf den Bürger

Kein Bereich des Lebens bleibe von der Digitalisierung unberührt, führte Prof. Dr. Klaus-Robert Müller das Thema in seiner Einleitung weiter aus. Der Moderator des Abends ist Leiter des Fachgebietes Maschinelles Lernen an der Technischen Universität Berlin und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Big Data - Datenschutz - Privatheit" der Leopoldina. Die Nationale Akademie der Wissenschaften berate als Mitveranstalterin der Diskussion Politik und Öffentlichkeit zu Chancen und Risiken durch Fortschritte in der Wissenschaft. Dabei stünden zunehmend ethische und rechtliche Aspekte der Digitalisierung im Mittelpunk, auch für den privaten Nutzer. "Wie lassen sich hierbei persönliche Frei- und Schutzräume wahren?", fragte Müller nach den Folgen für gesellschaftliche Prozesse in demokratischen Systemen.

Vernetztes Datensammeln

Prof. Dr. Thomas Hofmann beschäftigt sich als Informatiker mit der Kommunikation zwischen Maschinen und Systemen - und damit, wie diese dabei lernen. Er lehrt Datenanalytik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und ist, wie sein Vorredner, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Big Data - Datenschutz - Privatheit" der Leopoldina. "Demokratie im Zeitalter der Datenkybernetik" lautete der Titel seines Vortrags, in dem er zunächst ausführte, was ihn veranlasst, von einer "totalen Vermessung unserer Gesellschaft" zu sprechen: "Jede menschliche Aktion oder Interaktion wird in Echtzeit erfasst und aufgezeichnet."

Prof. Dr. Klaus-Robert Müller von der Technischen Universität Berlin erklärte, dass kein Bereich des Lebens von der Digitalisierung unberührt bleibt.

Und er benannte zahlreiche Beispiele aus der Nutzung von Internet, Smartphones, Wearables, digitalem Fernsehen und häuslicher Steuerung. Vor dem Hintergrund lernender Systeme und maschineller Intelligenz führe dies zu einem "Hyper-Daten-Web".

Kontrolle und Macht

An Beispielen wie der massiven Erfassung von Ortsdaten durch Kommunikationshardware und einer Kombination von Videoüberwachung und Gesichtserkennung zeigte Prof. Dr. Thomas Hofmann auf, was durch die Verknüpfung gesammelter Daten möglich wird. "Überwachungstechnologien sind ohnehin problematisch," warnte er, "doch nun kommt zudem die Vorhersagbarkeit ins Spiel." Es sei möglich, zu berechnen, wer sich wann mit wem und wo aufhalten werde. Angesichts der von ihm festgestellten "Macht der Daten" ist sich Hofmann sicher: "Anonymität gibt es nicht!" Absolute Transparenz führe zu neuen Möglichkeiten von Machtausübung. Für die Demokratie sei es deshalb umso wichtiger, den mündigen Bürger zu stärken, ihm die Kontrolle seiner eigenen Daten zu ermöglichen. "Wir müssen außerdem Monopole auflösen und die digitale Welt dezentralisieren", forderte Hofmann.

Datenschutz als Dilemma

"Digitale Dilemmata" nannte Prof. Dr. Jeanette Hofmann ihren Vortrag, den sie tagesaktuell mit Beispielen anreicherte. Die Politikwissenschaftlerin ist Leiterin der Projektgruppe "Politikfeld Internet" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin und Mitglied der Kommission "Digitalisierung der Gesellschaft" der Leopoldina. Sie umriss ihr Thema: "Die Erschütterungen durch die Informatisierung der Lebenswelt führen dazu, dass viele Probleme nur noch durch neue Probleme lösbar sind." Zunächst ging sie exemplarisch auf das Verhältnis zwischen der Globalität des Internets und nationalen Rechtsprechungen ein. Nachdem der Europäische Gerichtshof das "Safe-Harbour-Abkommen" mit US-Konzernen zur Regelung von Datensicherheit kippte, liege nun eine neue Version vor. Doch dieser "Privacy Shield" sei ebenso "butterweich", erklärte Hofmann. "Die machen mit unseren Daten, was die US-Regierung will", warnte sie. Ein Ausweg sei nicht in Sicht.

Prof. Dr. Thomas Hofmann, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, berichtete aus Sicht der Informatik über die digitale Revolution.

Integration zu einem hohen Preis

Als weiteres aktuelles Dilemma der Digitalwelt nannte Prof. Dr. Jeanette Hofmann die Funktion von persönlichen Daten als Währung. "Unser Nutzungsverhalten im Internet ist durch eine Zugänglichkeit geprägt, die wir weitgehend mit unseren Daten bezahlen", führte sie aus. Dabei gebe es keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Eine Nachhaltigkeit dieser Währung sei jedoch nicht in Sicht: "Auf lange Sicht sind unsere Persönlichkeitsrechte unveräußerlich." International verschärfe sich dieser Konflikt durch das häufige Fehlen einer Deregulierung des Telekommunikationsmarktes, so Hofmann. Mit dem Geschäftsmodell "Free Basics" biete facebook aktuell in vielen Regionen kostenfreies Internet mit kuratierten Inhalten an. Diese Marktverzerrung habe zum Beispiel gerade in Indien zu Protesten geführt.

Kapitulation oder Lösungswege

"Zu welchen Grundbedingungen wollen wir in der digitalen Gesellschaft leben?" Diese zentrale Frage werde in unterschiedlichen Regionen sehr divers beantwortet, so Prof. Dr. Jeanette Hofmann. Während viele US-Bürger sich offenbar bereits in ein "Post-Privacy-Zeitalter" ohne Datenschutz gefügt haben, versuche sich der europäische Diskurs in vielfältigen Lösungsansätzen: Von digitaler Abstinenz über Datensparsamkeit und technische Lösungen bis hin zu neuen Gesetzen und Abkommen reiche die Bandbreite. Hofmann sieht gangbare Wege in einer radikalen Neufassung des Datenschutzes. "Das Individuum muss zur maßgeblichen Instanz werden", forderte sie, "sein Entscheidungsspielraum muss sich erweitern." Gruppen und Zusammenschlüsse könnten dann Minimalstandards einfordern. Hofmann ist optimistisch: "Ein rechtlicher Rahmen konnte ja auch für andere Märkte etabliert werden."

Sorgen und Visionen

In der Diskussion fragte Prof. Dr. Klaus-Robert Müller auch nach positiven Visionen. Prof. Dr. Thomas Hofmann blieb skeptisch: "Meine Sorgen um die enormen Machtgefälle sind größer als mein Enthusiasmus." Sicher sei er dennoch fasziniert, sehe große Potenziale auch für die Gesellschaft.

Prof. Dr. Jeanette Hofmann, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, trug die gesellschaftswissenschaftliche Sicht zur Diskussion bei.
Dr. Henrike Hartmann, Leiterin der Förderabteilung der VolkswagenStiftung, leitete den Abend und seinen Bezug auf Leibniz ein.
Prof. Dr. Klaus-Robert Müller von der Technischen Universität Berlin erklärte, dass kein Bereich des Lebens von der Digitalisierung unberührt bleibt.
Prof. Dr. Thomas Hofmann, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, berichtete aus Sicht der Informatik über die digitale Revolution.
Prof. Dr. Jeanette Hofmann, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, trug die gesellschaftswissenschaftliche Sicht zur Diskussion bei.
Die Podiumsdiskussion drehte sich unter anderem über die Grundbedingungen, unter denen wir in der digitalen Gesellschaft leben wollen.
Aus dem Publikum wurde eine konkrete Perspektive auf die Demokratie eingefordert.