Neubeginn mit Altlasten
Der schwierige Weg zur neuen Universität nach dem Zweiten Weltkrieg war Thema einer Abendveranstaltung im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen. Veranstaltungsbericht zum Forum für Zeitgeschehen am 8. Juni 2015.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ nicht nur zerstörte Städte, auch die Universitäten mussten den Kraftakt des Wiederaufbaus bewältigen – und das nicht nur in materieller Hinsicht. Wie die personelle und geistige Neustrukturierung der Universitäten nach 1945 vor sich ging, beleuchteten Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch von der Humboldt Universität zu Berlin, Prof. Dr. Mitchell G. Ash von der Universität Wien und die Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen, Prof. Dr. Ulrike Beisiegel, beim Herrenhäuser Forum "Neubeginn? Deutsche Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg". Sie fragten auch danach, inwieweit dieser Prozess noch heute für die Hochschulen von Bedeutung ist.
Die ideale Universität?
Ein Neubeginn setzt immer eine bestimmte Vorstellung voraus. Nach welchem Ideal sollten die Universitäten umstrukturiert werden? Einen Beitrag dazu lieferte seinerzeit der Philosoph Karl Jaspers mit seiner Schrift "Die Idee der Universität", aus der Martin G. Kunze, Schauspieler und ehemaliger Chefredakteur des Evangelischen Kirchenfunks, zum Auftakt des Abends Auszüge vortrug. So wurde deutlich, dass Jaspers‘ Idee der Universität eine uneingeschränkte und von staatlicher Lenkung befreite Lehre der Wahrheit voraussetzt. Die Universität sei "eine Korporation mit Selbstverwaltung", die alle Wissenschaften miteinander vereine. Die Bezeugung der Wahrheit durch Freiheit könne jedoch nur erfolgen, wenn die freie Welt diese Chance auch wirklich ergreife. "Wir tragen die Verantwortung, was aus uns werden soll", zitierte Kunze den Heidelberger Philosophen, der die Zukunft der Universität auch in der Erneuerung ihres ursprünglichen Geistes im Sinne Humboldts sah.
Jugend als Potenzial
Prof. Dr. vom Bruch fokussierte in seinem Vortrag die Rolle der Alliierten und ihre Einflussnahme auf die Neustrukturierung der Universitäten. Die Besatzungsmächte hätten auf eine personale wie mentale Entnazifizierung und eine gesellschaftspolitische Modernisierung mit mehr demokratischer Verantwortung und sozialer Öffnung gezielt. Die Studentenschaft wollte man nicht als Erben der Nazizeit betrachten, sondern als Potenzial für die Reformierung Deutschlands, was zum Beispiel in einem Jugendamnestiegesetz Ausdruck fand.
"Im Kern gesund"
Doch wie setzte man die verschiedenen Vorstellungen in der Praxis um? "Ein offener Blick nach vorne entspricht nicht immer einem offenen Blick zurück", sagte Rüdiger vom Bruch mit Blick auf die personelle Neustrukturierung, die auch aus Sicht von Professor Ash nicht konsequent im Sinne der Entnazifizierung durchgeführt wurde. Es habe sich unter den Hochschulprofessoren eine Wagenburgmentalität entwickelt: Gestützt auf kollegiale Fürsprache und Beziehungen aus NS-Zeiten nahm man sich gegenseitig aus der Schusslinie. Man distanzierte sich von den Taten der Nazis und stilisierte die deutsche Universität gar zum "Bannerträger eines christlichen Abendlandes", welcher die dunkle Epoche des Dritten Reichs unbeschadet überstanden habe. Bezüglich der ambivalenten Beziehungen der Universitäten zum Nationalsozialismus hüllte man sich nur zu gern in Schweigen oder benutzte irrationale Erklärungsmuster wie "Dämonie" oder "Tragik". Vielfach wurde die Ansicht laut, die Universität sei "im Kern gesund".
Wiederaufbau auf die Schnelle
Mitchell G. Ash erinnerte in seinem Vortrag an den großen Verlust wissenschaftlicher Kapazitäten, den Deutschland hinnehmen musste, da viele der vertriebenen oder geflüchteten Hochschullehrer nach Ende des Krieges nicht zurückkamen. Darüber hinaus sahen sich die Universitäten in Ost- und Westdeutschland mit dem Dilemma konfrontiert, ob die Entnazifizierung oder der rasche Wiederaufbau der Universitätslandschaft Vorrang habe. Um der in Nazideutschland sozialisierten Jugend eine neue Perspektive geben zu können, wurde eine schnelle (Wieder)Eröffnung der Hochschulen als unumgänglich betrachtet. Eine konsequente Aussortierung ideologisch "vorbelasteter Lehrkörper" sollte folgen, blieb aber letztlich auf populäre Einzelfälle begrenzt.
Verantwortung – auch heute
Die abschließende Diskussionsrunde der beiden Vortragenden mit Prof. Dr. Ulrike Beisiegel wurde vom Generalsekretär der Volkswagen Stiftung, Dr. Wilhelm Krull, moderiert. Die Präsidentin betonte die Verantwortung der Wissenschaft, die Geschichte des Nazi-Regimes und das Gedenken an dessen Opfern weiterzutragen sowie aktiv an der Aufarbeitung von NS-Verbrechen zu arbeiten. "Es ist Aufgabe der Universitäten, Studenten dazu zu veranlassen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen."
Die Frage, wieso es erst so spät zu einer Aufarbeitung kam, erklärte Professor Ash damit, dass die betreffende Dozentengeneration erst hätte abtreten müssen. Während die Aufarbeitung für die ältere Generation ein sehr emotionales Thema sei, stoße sie bei den jungen Menschen auf ein eher mageres Interesse, stellte Rüdiger vom Bruch fest, und Mitchell G. Ash wies auf die Ironie der Situation hin: Wegen des stark verzögerten Beginns der Aufarbeitung müsse sich nun eine Generation mit der Problematik auseinandersetzen, die kaum einen Bezug dazu habe.
Mandy Rutkowski