Perspektiven jenseits von Hysterie und Indienstnahme
Veranstaltungsbericht und Audio-Mitschnitt zum Herrenhäuser Forum "Wir sind gefragt! Wege aus dem Flüchtlingsdilemma".
Emotion und Wissenschaft
Manche Bilder werden zu Sinnbildern ganzer Diskurse. "Ein toter syrischer Junge am Strand von Bodrum hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt", erinnerte sich Katja Ebeling von der VolkswagenStiftung sichtlich bewegt an ein Medienereignis, das viele Menschen in Deutschland und Europa aufrüttelte, für die humanitäre Dimension der andauernden starken Fluchtbewegung nach Europa sensibilisierte und eine Welle der Hilfsbereitschaft mit auslöste. Inzwischen sei die Stimmung in Deutschland wieder gekippt.
Die Not der Geflüchteten jedoch sei geblieben, so Ebeling: "Sie nimmt unsere so reiche Gesellschaft in die Pflicht." Die VolkswagenStiftung engagiere sich bereits seit vielen Jahren für Forschungsprogramme und -kooperationen zu entsprechenden Themen. Nicht zuletzt habe sie im Jahr 2008 die Gründung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration mitinitiiert. Und das Flüchtlingsdilemma war auch Thema dieses Herrenhäuser Forums "Wir sind gefragt! Wege aus dem Flüchtlingsdilemma".
Abgrenzung und Integration
Das Thema der Veranstaltung knüpfte unter anderem an einen Abendvortrag des kanadischen Historikers und Politikwissenschaftlers Prof. Randall Hansen im November 2015 an, der auf Einladung der VolkswagenStiftung zu historischen, globalen und demografischen Perspektiven auf Migration gesprochen hatte.
Moderator Dr. Ludger Vielemeier, Berlin-Korrespondent des Norddeutschen Rundfunks, wies darauf hin, wie schnell sich die öffentliche Debatte in den vergangenen Wochen verändert habe: "Heute geht es der Politik vor allem wieder um Abwehr, Abgrenzung und Zäune." Dennoch müsse zugleich danach gefragt werden, wie das Sterben im Mittelmeer zu beenden sei und wie es gelingen könne, Geflüchtete in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.
Codierung und Semantik
Prof. Dr. Sabine Hess erinnerte daran, dass der heutigen Brisanz des Themas eine lange Phase des Desinteresses vorausging. Bereits seit dem Jahr 2001 hat die Migrationsforscherin an der Universität Göttingen als eine der ersten deutschen Wissenschaftlerinnen interdisziplinär zu Grenzen und Flucht gearbeitet. Sie verfolgt unter anderem den Wandel von Begriffspolitiken. "Eine schleichende Umcodierung fand zuletzt beim EU-Treffen am 7. März ihren Höhepunkt, als das offizielle Ende der Balkanroute beschlossen wurde", erklärte sie.
Wo es vor kurzer Zeit noch um Schutz und Menschenrechte ging, werde jetzt wieder eher hysterisch über Eindämmung, Sicherheit und Kriminalität geredet. Mit irregulärer und illegaler Migration zu argumentieren verschleiere, dass die aktuelle Politik diese erst semantisch hervorbringe. "Hier werden Menschen ihrer Rechte und Eigenschaften beraubt", beklagte Hess, "wie können wir zusehen, wie sie im Schlamm versinken?"
Abschreckung und Felxibilität
"Die Herausforderungen der Migration werden von der globalen Politik immer noch nicht als zentral begriffen", mahnte Hess. Stattdessen würden im Türkei-Deal staatlicher Menschenhandel und Gefangenenaustausch mit einem fragwürdigen Partner betrieben. Es gelte, sich weg von einer Politik zu bewegen, die durch den einkalkulierten Tod auf der Flucht abschreckt – und hin zu einer, die den Schutz von Menschenleben vor den von Grenzen stelle. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass der Migrationsdruck auch nach Schließen der Balkan-Route anhalten werde, führte Hess aus, da dieser sich wie immer flexibel andere Wege suchen würde. Sie mahnte aber auch: "Je komplizierter die Routen werden, desto riskanter werden sie." Darüber hinaus zeige sich bereits in Europa, dass effektive Grenzkontrolle immer auch Militarisierung und Nationalisierung mit sich bringen. Hess war sich sicher: "Das über Jahrzehnte aufgebaute fließende Management europäischer Mobilitätsrechte wurde in kürzester Zeit zunichte gemacht."
Engagement und Kompetenz
Prof. Dr. Klaus Bade nutzte seinen Impulsvortrag zunächst für die Vernetzung: "Wir haben jetzt auch ein Schiff." Wir, das ist "SOS Mediterranee", die Europäische Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer, für die er sich als Bürger engagiert. Das Geld reiche noch bis Mai. "Aber alleine letzte Nacht haben wir 118 Menschen gerettet." Bade ist emeritierter Professor am Institut für Migrationsforschung der Universität Osnabrück und langjähriger Politikberater.
Er hält die Integration Geflüchteter vor allem für eine kulturelle Herausforderung: Interkulturelle und interreligiöse Kompetenz werde in Zeiten demografischer Revolutionen immer wesentlicher, prophezeite Bade. "Mehrdeutigkeiten und Mehrfachidentitäten machen Menschen aber natürlich auch Angst", warnte er. Die Kommunen müssten als Hauptlastenträger gestärkt werden, auch damit Geflüchtete irgendwann zu Mitbürgern werden können – unabhängig von ihrem rechtlichen Status.
Teilhabe und Perspektiven
Prof. Dr. Klaus Bade betrachtete auch eine Idealisierung von Geflüchteten kritisch: "Schutzbedürftige sind keine Lichtgestalten, wir brauchen Willkommenskultur statt Willkommenskitsch. Die Grundregeln der Verfassung müssten so schnell wie möglich vermittelt werden. Aber auch die Integration der Mehrheitsbevölkerung in die neue Situation dürfe nicht vernachlässigt werden. Es müsse also einerseits mehr über Menschen und Schicksale geredet werden. "Andererseits geht es um die Teilhabe an zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens", erklärte Bade. Das werde ermöglicht durch dauerhafte Perspektiven, private Wohnungen und Spracherwerb.
"Vor allem müssen wir den Menschen die Chance geben, ihr Humankapital und ihre Leistungsorientierung zu investieren", zeigte sich Bade überzeugt. Es nütze allerdings nichts, sich Qualifikationen schönzureden. Langfristig seien Geflüchtete zwar ein ökonomischer Gewinn für das Aufnahmeland, dazwischen stünden jedoch auch Probleme und Investitionen.
Bedingungen und Potenziale
Auch Prof. Dr. Michael Hüther zweifelte an allzu euphorischen wirtschaftlichen Berechnungen. Allerdings sei diese Betrachtung zunächst zweitrangig, denn: "Flüchtlinge kommen nicht zu uns, um unsere Probleme zu lösen." Hüther ist Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft und forderte mehr Trennschärfe in der Betrachtung ökonomischer Dimensionen bei der Aufnahme von Geflüchteten. Die Dauer des Aufenthalts spiele eine Rolle, ebenso wie die Perspektive auf Rückkehr in die Heimat. Grundsätzlich sei eine sinnvolle Verteilung in Deutschland wichtig.
Hüther beklagte: "Der Königsteiner Schlüssel ist völlig sachfremd." Er plädiere vielmehr für die Möglichkeit der Binnenwanderung und ein Berücksichtigen von Bedingungen in den Regionen: offenen Stellen entsprechend zu erwartender Qualifikationen, Wohnraumangebot und zivilgesellschaftlichen Engagements. Hüther forderte, die zahlreichen vorhandenen Qualifizierungsinstrumente zu nutzen. Außerdem wendete er sich gegen eine Integrationspflicht: "Sich an Gesetze und Gepflogenheiten zu halten, gilt für jeden Touristen. Wollen wir darüber hinaus Superdeutsche erzeugen?"
Solidatirär und Erpressung
Für einen ökonomischen Lösungsansatz auf europäischer Ebene plädierte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl: "Die Europäische Union steht nicht nur in der Flüchtlingspolitik zur Disposition. Ohne Solidarität zerbricht sie." Er forderte Klartext bei den Bedingungen für eine weitere Teilhabe. Europa sei zweifellos eine voneinander nicht zu trennende Werte- und Wirtschaftsunion. Die möglichen Auswirkungen des Türkei-Deals auf die Außen- und Sicherheitspolitik beunruhigen Burkhardt: "Erdoğan hat kein Interesse an Frieden, er braucht den Krieg für seine Kurdenoffensive."
Für diesen Konflikt werde Europa nun erpresst. Langfristig sei sogar mit einer zusätzlichen Fluchtbewegung aus der Türkei in den Rest Europas zu rechnen, sagte Burkhardt voraus. Geflüchtete vor dem Grenzzaun in einer Sicherheitszone zu sammeln, führe außerdem unweigerlich zur Notwendigkeit militärischen Handelns zu deren Schutz. Er beklagte: "Hier bleiben etablierte Werte auf der Strecke. Es ist mit Menschenrechtsverletzungen zu rechnen." Schon jetzt würden Syrer zurückgeschickt, erhöhten sich die Zahlen der Todesopfer durch Schleuserbekämpfung und längere Fluchtrouten.
Ministerium und Expertenrunde
Prof. Dr. Klaus Bade forderte als Konsequenz aus seinem Input nicht nur die Einrichtung einer Weltflüchtlingskonferenz. Sondern vor allem auch, die Integration und Migration aus der Zuständigkeit des Innenministeriums zu lösen: Es ginge dabei nicht um Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr, sondern zum Beispiel viel mehr um Themen des Ministeriums für Arbeit und Soziales. "Ein eigenes Integrationsministerium wäre optimal", resümierte Bade. Dieses könnte auf einer Ebene mit anderen Ministerien kooperieren: nach unten mit den Ländern und nach oben mit einer Asylagentur der Europäischen Union. So könne das Innenministerium als Partner wieder zum Teil der Lösung werden, anstatt Teil des Problems zu sein.
Prof. Dr. Sabine Hess stimmte zu. Auch sie wünschte sich ein Ende der "Versicherheitlichung" des Themas und die Betonung von sozialen und ökonomischen Aspekten. Günter Burkhardt ergänzte: "Das ordnungsrechtliche Denken, zu dem das Innenministerium verpflichtet ist, blockiert Entwicklungen." Und Prof. Dr. Michael Hüther dachte sogar an ein noch weiter gefasstes Demografieministerium. Vor allem forderte er gemeinsam mit Bade eine Vision, die Formulierung von Perspektiven und eine interdisziplinäre Expertenrunde.
Offenheit und Prgamatismus
Dr. Michael Griesbeck als Vizepräsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hielt pragmatisch zum Innenministerium. Er gab zu bedenken, dass das Aufenthaltsrecht nach wie vor juristisch diskutiert und entschieden werden müsse. Innerhalb seiner Behörde habe sich schon vieles beschleunigt, die Strukturen müssten allerdings an die deutlich höheren Zahlen angepasst werden. Prof. Dr. Sabine Hess forderte dennoch mehr Offenheit und Anschlussfähigkeit: "Kein anderer Bereich mit dieser Relevanz verschließt sich so sehr der Wissenschaft wie die Migrationspolitik."
Fast alle Podiumsmitglieder waren sich einig, dass mehr Pragmatismus, Realitätssinn und Flexiblität in der Praxis weiterhelfen würden. Prof. Dr. Klaus Bade wünschte sich die Möglichkeit, Geflüchtete mit guten Englischkenntnissen auch ohne Sprachkurs in internationale Firmen vermitteln zu können. Günter Burkhardt forderte eine wahrheitsgetreuere Bewertung von Rückkehrperspektiven in Länder wie Syrien. Einig waren sich Hess und Bade beim internationalen Verursachersprinzip. Hess betonte: "Menschen, die Kriege anzetteln, sollten auch Verantwortung übernehmen."
Abrüstung und Fortsetzung
"Ich würde mir solche sachlichen Debatten ohne Hysterie auch auf anderen Ebenen wünschen", resümiert Moderator Dr. Ludger Vielemeier, und ergänzt: "Eine sprachliche Abrüstung täte vor allem der Politik gut." Sprache, Kommunikation und Darstellung werden tatsächlich bei der nächsten Veranstaltung der VolkswagenStiftung zum Themenkomplex Geflüchtete im Mittelpunkt stehen. Am 6. April heißt das Thema: "Die "Flüchtlingskrise" - eine "Krise des Journalismus"?"
Thomas Kaestle