Prof. Dr. Bernhard Hiebl mit Tierattrappen
Story

Tierversuche: Geht's auch ohne?

Tina Walsweer

Tierversuche sind in der Forschung (noch) unverzichtbar zum Erkenntnisgewinn. Jedoch sind sie nie mehr als "nur" ein Modell. Welche Alternativmethoden gibt es bereits? Wie lässt sich der Verbrauch an Versuchstieren senken? Und wie kann die Gesellschaft die Forschung an Alternativen bestärken?

Rund 11,5 Millionen Tiere werden jährlich EU-weit für Versuche verwendet – rund 2,8 Mio. davon kommen in deutschen Laboratorien, in Forschungseinrichtungen und der Industrie zum Einsatz. Bezogen auf alle Tiere, die hierzulande genutzt werden, ist der Anteil an Versuchstieren mit 1,1 % relativ gering, verglichen mit den 85 % der für die Lebensmittelproduktion genutzten Tiere. Dennoch bewegen gerade Tierversuche viele Gemüter. Tierrechts- und Tierschutzorganisationen sowie deren Anhängerinnen und Anhänger fordern seit Jahrzehnten, Tierversuche entweder ganz aus Forschung und Entwicklung zu verbannen, oder mindestens die Zahl der verwendeten Tiere deutlich zu verringern.

Auch in der Wissenschaft selbst gibt es – ebenfalls seit Jahrzehnten – den Konsens, die Zahl der Tierversuche auf das notwendige Minimum zu reduzieren: Das sog. 3R-Prinzip (Replace – Vermeiden, Reduce – Verringern, Refine – Verbessern), das die Wissenschaftler William Russel und Rex Burch bereits 1959 veröffentlicht haben, gilt bis heute als Grundlage für die Tierschutzpolitik und Praxis moderner Forschungsansätze in vielen Ländern. Es wurde in 2010 in der Europäischen Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere niedergeschrieben und schließlich 2013 mit dem novellierten Tierschutzgesetz und der Tierschutz-Versuchstierverordnung in deutsches Recht umgesetzt. Somit ist die konsequente Umsetzung des 3R-Prinzips in der tierexperimentellen Forschung die Voraussetzung dafür, dass die zuständigen Behörden Tierversuche überhaupt zustimmen.

Suche nach Alternativmethoden ist notwendig, aber langwierig

Neben dem Bestreben, Tierversuche so gut es geht zu vermeiden, zu verringern oder zu verbessern, ist die Wissenschaft aber ebenso bestrebt, Alternativmethoden zu entwickeln. Denn die Aussagekraft und Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen ist begrenzt, weiß Prof. Dr. Bernhard Hiebl, Professor für Versuchstierkunde und Tierschutz im Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover: "Zwei Beispiele sind Parkinson und Alzheimer, also neurodegenerative Erkrankungen. Für sie existieren über 50 erfolglose klinische Studien am Menschen mit Wirkstoffen, die allesamt zuvor im Tiermodell erfolgreich waren. Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich in der Schlaganfall-Forschung: In über 150 klinischen Studien erzielten Wirkstoffe, die im Tier erfolgreich waren, beim Menschen keinen Effekt." Hier besteht also dringender Handlungsbedarf, verlässliche Modelle und Methoden für die Forschung zu entwickeln.

Prof. Dr. Bernhard Hiebl mit Tierattrappe

Prof. Dr. Bernhard Hiebl von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover beleuchtete bei Herrenhausen Late mit dem Titel "Geht's auch ohne? Alternativen zum Tierversuch" den Einsatz von Tieren in Versuchen kritisch. 

Noch ist die Anzahl der anerkannten Alternativmethoden insgesamt jedoch recht überschaubar: In der Datenbank DB-ALM (DataBase on ALternative Methods) der zuständigen EU-Behörde EURL ECVAM (EU Reference Laboratory for alternatives to animal testing) finden sich rund 50 Verfahren, deren Aussagekraft und Reproduzierbarkeit wissenschaftlich geprüft wurden. Einer der Gründe, warum bislang nicht mehr Verfahren hier zu finden sind, obwohl weltweit bereits viel für die Suche nach Alternativmethoden getan wird: langwierige Prüfprozesse. Denn es genügt nicht, dass allein ein Verfahren für den Ersatz eines Tierversuchs entwickelt wird. Mehrere Labors müssen selbiges Verfahren mithilfe von Referenzproben durchführen und validieren, also seine Tauglichkeit bestätigen. Die Ergebnisse dieser sog. Multi-Center-Studie durchlaufen anschließend eine wissenschaftliche Begutachtung, die im besten Falle in einer Empfehlung des EURL ECVAM mündet und sich in einer Richtlinie der OECD niederschlägt. Dieser Prozess kann gut und gerne 10 bis 15 Jahre in Anspruch nehmen. Die Folge: Die Zahl an Tierversuchen bleibt (vorerst) auf ähnlichem Niveau.

Wie lässt sich die Versuchstierzahl spürbar senken?

In welchem Forschungsbereich setzt nun die Wissenschaft an, um durch Alternativmethoden die Zahl an Versuchstieren spürbar zu senken? "Die Alternativenforscher sollten unbedingt den Bereich der Grundlagenforschung thematisieren, um wirklich Effekte auf die aktuellen Tierversuchszahlen zu erzielen", erklärt Hiebl. Denn das Gros der Tiere kommt in der Grundlagenforschung und dort vor allem in der biomedizinischen Forschung zum Einsatz. Daneben machen regulatorische Prüfungen zur Qualitätskontrolle, Toxikologie und Unbedenklichkeit, wie sie bspw. in der Industrie für die Zulassung neuer Chemikalien, Medikamente oder Medizinprodukte vorkommen, nur etwa 20 % der gesamten Tierversuche aus. Noch weniger Tiere kommen in den übrigen Gebiete zum Einsatz, zum Beispiel in der angewandten Forschung, Arterhaltung und Aus,- Fort- und Weiterbildung. "Die meisten der bislang validierten Alternativmethoden beziehen sich auf Risikobewertungen und ersetzen damit Methoden, die bereits einen relativ geringen Verbrauch an Versuchstieren hatten", berichtet Prof. Hiebl. "Meiner Ansicht nach könnten wir deutlich mehr tun, um Alternativen zu Tierversuchen in der Grundlagenforschung mehr Schwung zu geben."

Grafik wofür und wie häufig werden Versuchstiere eingesetzt

In der Grundlagenforschung werden die allermeisten Versuchstiere eingesetzt.

Nicht nur die wissenschaftliche Disziplin spielt aber eine Rolle, auch die Tierklasse muss bei der Ausrichtung der Alternativenforscher Beachtung finden. Denn den überwiegenden Teil der Versuchstiere machen mit rund 98 % die Wirbeltiere aus – Säugetiere, allen voran Mäuse und Ratten, stellen darin mit etwa 87 % die größte Gruppe. Dabei sind Ratten und Mäuse nicht unbedingt der ideale Modellorganismus: Prof. Ronald G. Tompkins, Gründungsdirektor des Center for Surgery, Innovation & Bioengineering am Massachusetts General Hospital in den USA hat in einer Studie untersucht, inwieweit sich Sepsis-Mechanismen bei Mensch und Maus vergleichen lassen. Sepsis, eine Entzündungsreaktion des Körpers aufgrund einer Infektion mit Bakterien, Viren, Pilzen oder Parasiten, ist die häufigste Todesursache auf Intensivstationen im Krankenhaus. Daher ist die Erforschung der Ursachen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit von größter Bedeutung.

Dementsprechend viele Versuche mit einer hohen Anzahl an benötigten Versuchstieren wurden dazu durchgeführt – ohne dass sich bis heute ein wirksamer therapeutischer Ansatz für dieses Krankheitsbild herauskristallisiert hätte. Prof. Tompkins und sein Team haben die Ursache dafür herausgefunden: Die Übereinstimmung der Sepsis-Mechanismen im Mensch und in der Maus liegen bei unter 5 %. Die Aussagekraft der Forschungsprojekte in diesem Gebiet, die sich am Mausmodell orientieren, ist dementsprechend gering. Hiebl resümiert: "Man kann durchaus Zweifel daran haben, ob ein Gesamtorganismus immer der Goldstandard für wissenschaftliche Fragestellungen ist."

Grafik Welchen Anteil haben die verschiedenen Tiergruppen an den Versuchstieren

An Mäusen wird am häufigsten geforscht – Primaten machen nur 0,13 % der Versuchstiere in Deutschland aus. 

Was haben wir, was brauchen wir?

Deutschland- und weltweit nimmt die Zahl der Zentren, die sich ausschließlich den Alternativmethoden oder der 3R-Forschung widmen, kontinuierlich zu. Beispielsweise wurde an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover bereits im Jahr 2009 das Zentrum für Ersatz- und Ergänzungsmethoden ins Leben gerufen. Dort stehen unter anderem die Entwicklung und Validierung von neuen Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch, aber auch die Bildung entsprechender Forschungsverbünde zur intensiven Erforschung neuer Arbeitsgebiete sowie die Verankerung des 3R-Konzepts in allen Bereichen der tierärztlichen Ausbildung im Mittelpunkt. Hiebl sieht besonders in dem Ausbildungsaspekt einen wichtigen Schritt: "Die veterinärmedizinischen Bildungseinrichtungen müssen sich auch darauf fokussieren, dieses Thema in Professuren zu übertragen, damit die Forschung zu Alternativmethoden verstetigt wird."

Diesem Teilbereich wird auch durch das Clinical Skills Lab Rechnung getragen, das 2013 an der Stiftung Tierärztliche Hochschule gegründet wurde. Das Skills Lab stellt unter anderem Videos zur Veranschaulichung tiermedizinischer Techniken und Verfahren zur Verfügung. Darüber hinaus trainieren Tiermedizin-Studierende aber auch ganz praktisch an Dummys, bevor sie ans "echte" Tier gehen, etwa die Injektion von Substanzen, die Untersuchung von Tieren und dergleichen. Das minimiert die Belastung von echten Tieren, da während der Ausbildungsphase naturgemäß auch Fehler unterlaufen.

Auch andere Institutionen treiben das Thema voran. So ist an der Universität Konstanz das Center for Alternatives to Animal Testing in Europe sowie am Bundesinstitut für Risikobewertung das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren angesiedelt. Auch an der Berliner Charité sowie an der Universität Gießen wurden im vergangenen Jahr ein 3R-Zentrum gegründet.

Grafik welche Alternativen gibt es zu Tierversuchen

Die Alternativen zu Tierversuchen gliedern sich in drei Bereiche: In-Vitro-Verfahren, In-Silico-Verfahren und den sog. "Body on a Chip".

Schlüsselprozesse erforschen, statt den Organismus zu belasten

Der komplexe Organismus als Versuchsobjekt wird immer nur dann in der Forschung benötigt, wenn bislang nicht genau verstanden wurde, wie ein Mechanismus funktioniert. Sobald aber das Verständnis dafür da ist, können die Forschenden sich auf die entsprechenden Schlüsselprozesse konzentrieren und beispielsweise mithilfe von Zellkulturen arbeiten, der Organismus als Forschungsobjekt an sich wird überflüssig. Ein Beispiel dafür ist ein nachgebildetes menschliches Epidermismodell, also ein Modell der oberflächlichen Haut, anhand dessen sich Zellmechanismen bei Hautirritationen studieren lassen. Es ersetzt heute nicht nur klassische Tierversuche für Kosmetika-Testungen, sondern findet auch bei der Erforschung von Melanomen oder Allergien Anwendung.

Auch neue Technologien bieten Perspektiven für Alternativen zu Tierversuchen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind heute in der Lage, in klassischen Ink-Jet-Druckern mit aus Zellen bestehender "Tinte" ganze Gewebe zu drucken. Prof. Jennifer Lewis von der Harvard University in den USA ist es sogar gelungen, vaskularisiertes Gewebe, also solches, das mit Blutgefäßen durchsetzt ist, in einem Druckverfahren herzustellen. Durch moderne Zellkulturverfahren konnte Prof. Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien einzelne Organstrukturen wie das Gehirn einer Taufliege künstlich erzeugen. "Am Ende wollen wir so weit sein, dass wir ganze Tiere in Chipformaten abbilden können – und danach auch den Menschen. Da denken wir aber gut 20 Jahre voraus", prognostiziert Prof. Hiebl.

Grafik Tierversuche 1

Bereits seit 15 Jahren sind Versuche für Kosmetika an Tieren in Deutschland verboten. Dennoch hält sich hartnäckig der Irrglaube, diese seien hierzulande erlaubt. 

Grafik Tierversuche 2

Die Entwicklung eines Medikaments durchläuft bis zur Anwendung in der Praxis viele verschiedene Stadien, die sich über Jahre bis Jahrzehnte hinziehen

Grafik Tierversuche 3

Die unterschiedlichen Tierarten werden für ganz unterschiedliche Forschungszwecke eingesetzt – je nach Anwendungsbezug und bestmöglicher Übertragbarkeit auf den Menschen.

Grafik Tierversuche 4

Tierversuche haben in der Geschichte entscheidend dazu beigetragen, herausragende Forschungsergebnisse zu erzielen.

Grafik Tierversuche 5

Die Forschung am Mausmodell eignet sich für viele Felder. 

Gesellschaft in die Pflicht nehmen

Neben den Forschungseinrichtungen sieht Prof. Dr. Bernhard Hiebl aber auch die Gesellschaft in der Verantwortung. Denn intensivierte Forschung auf diesem Gebiet bedeutet auch, dass mehr Fördermittel gezielt dafür zur Verfügung stehen müssen. Zwar stellen die großen Geldgeber wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereits Mittel für derlei Projekte zur Verfügung. Und auch die Stiftung SET, die speziell zur Förderung von Alternativmethodenforschung gegründet wurde, geht mit gutem Beispiel voran.

Hiebl sagt: "Neben den Finanzgebern und den Ausbildungsstätten sind Tierschutzverbände in diesem Bereich aber nicht zu ersetzen. Wir brauchen diese Unterstützung, wie sie zum Beispiel der Bund gegen Missbrauch der TiereVier Pfoten, die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, der Deutsche TierschutzbundPeta oder auch die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz bieten. Sie haben zu Recht erkannt, dass es im Bereich der Alternativen-Beforschung Nachholbedarf gibt und thematisieren dies auch, was ich sehr begrüße. Denn letztendlich ist die Alternativmethodenforschung in Deutschland und Europa nach wie vor eine Nische."

Mann in Medizinerkleidung mit Stoffhund und Röntgenbild

Herrenhausen Late über Alternativmethoden

Bei der gemeinsamen Veranstaltung "Geht's auch ohne? Alternativen zum Tierversuch" der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover und der VolkswagenStiftung berichtete Prof. Dr. Bernhard Hiebl von der TiHo dem Publikum von Alternativen zu Tierversuchen.

Grafische Zeichnung von Tieren und einer Spritze.

Wie die VolkswagenStiftung zu Tierversuchen steht

Wie sich die VolkswagenStiftung generell zum Thema Tierversuche positioniert und nach welchen Grundsätzen sie handelt, ist in einer ausführlichen Stellungnahme nachzulesen.

Zur Stellungnahme der VolkswagenStiftung

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