Unterschiede und Gleichzeitigkeiten
Indiens Weg in die Unabhängigkeit führte zu einer beispiellosen Demokratisierung, historische Gewaltlosigkeit zu zeitgenössischer Pluralität. Veranstaltungsbericht zum Forum für Zeitgeschehen der VolkswagenStiftung in Zusammenarbeit mit den KunstFestSpielen Herrenhausen am 5. Juni 2015.
Gandhis Überzeugung in dessen eigenen Worten
"Ich kann nichts, was lebt, absichtlich verletzen. Erst recht keine Mitmenschen, selbst wenn sie mir und den Meinen das größte Unrecht zufügen sollten." Der Abend im Herrenhäuser Schloss beginnt mit einem Brief Mohandas Karamchand Gandhis aus dem Jahr 1930. Er schrieb ihn an den Vizekönig Lord Irwin, den mächtigsten Vertreter der britischen Verwaltung in Indien. Dieser hatte vor, der Kolonie den "Dominion"-Status zu verleihen – also den einer sich selbst verwaltenden Kolonie des Britischen Reiches. Der indische Kongress war jedoch entschlossen, nur eine völlige Unabhängigkeit zu akzeptieren.
Die vom Hamburger Schauspieler Günther Schaupp gelesenen Worte Gandhis waren dessen letztes Gesprächsangebot vor Beginn eines angekündigten zivilen Widerstands. Sie demonstrieren eindrücklich diplomatisches Geschick und kompromisslosen Willen einerseits, tiefe Abscheu vor jeder Art von Gewalt andererseits. Die britische Herrschaft sei ein Fluch, so Gandhi, Armut, Knechtschaft und Kulturverlust die Folgen. Erst die Unabhängigkeit erlaube Freundschaft, Miteinander und Gegenseitigkeit der Nationen - und bedeute die "Befreiung von einer tödlichen Last" für Indien. Der Brief brachte bei der britischen Krone keinen Erfolg. Die folgenden Protestaktionen bewiesen jedoch, dass, in Gandhis Worten, "Gewaltlosigkeit eine äußerst aktive Kraft ist".
Die Wahlmöglichkeiten der Moderne
Gandhis Brief ist nachzulesen in den 2014 von Prof. Dr. Gita Dharampal-Frick edierten Schriften Gandhis zur Gewaltlosigkeit. Als Leiterin der historischen Abteilung des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg forscht sie u.a. zu Gandhis Konzept der Gewaltlosigkeit. Sie schlägt dabei auch Brücken in die aktuelle Politik. Gandhi ist für sie deshalb nicht nur die Schlüsselfigur in Indiens Unabhängigkeitsbewegung und der damit verbundenen Ablehnung von Rassismus und Gewalt. Sie sieht ihn auch als "Kritiker der industriellen Moderne, ihrer Fortschrittsgläubigkeit und den damit verknüpften sozioökonomischen Problemen", als jemanden, der für ein moralisches Bewusstsein im Imperialismus steht.
Dharampal-Frick bringt zwei Ereignisse in Zusammenhang, die im Abstand von fast hundert Jahren an einem 11. September stattfanden. Im Jahr 1906 versammelte Gandhi etwa 3.000 Inder in Johannisburg zu einer Kundgebung, die den Beginn gewaltfreier Proteste gegen deren Diskriminierung in Südafrika markierte - und damit eine der ersten Grundlagen der Satyagraha-Bewegung als Kern gewaltfreien Handelns. Im Jahr 2001 löste der Anschlag auf das World Trade Center mit etwa 3.000 Toten einen "Krieg gegen den Terror", also eine gewaltgeprägte Reaktion aus, die zu zahlreichen weiteren Opfern führte. "Diese beiden historischen Wendepunkte zeigen das Spektrum der politischen Wahlmöglichkeiten der Moderne auf", erklärte Dharampal-Frick. Sie fragte: "Wie reagieren wir auf politische Herausforderungen? Welche Rolle spielen dabei Gewalt, Autorität und Demokratie?"
Satyagraha: Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam
Gandhi nannte sein Konzept der Gewaltfreiheit und des zivilen Ungehorsams, durch das er politische und spirituelle Traditionen Indiens in die Moderne übertrug, Satyagraha. Dharampal-Frick führte aus, dass er darin die Aspekte des Strebens nach Wahrheit, der Gewaltlosigkeit, der Willensstärke und der Selbstlosigkeit vereinte: "Er begriff es als globales, universelles Leitbild." Interkulturelle Perspektiven seien bereits in Gandhis Zeit in Südafrika wesentlich gewesen. "In den Aktionen gegen den Black Act der Regierung Botha zeigte sich, wie mächtig das gewaltfreie Handeln war - und zugleich, welche anarchischen Züge es annehmen konnte", erläuterte Dharampal-Frick. Als Gandhi im Jahr 1915, nach 21 Jahren, nach Indien zurückkehrte, wurde er international verehrt. Mit zahlreichen Satyagraha-Kampagnen kämpfte er gegen Unterdrückung und Ungleichheit. Und bereitete so den Weg für die indische Unabhängigkeit.
Der weitere Verlauf der Straße der Freiheit
Wohin führte Indien der Weg nach der Unabhängigkeit, wie ging und geht es mit der Freiheit um?" Mit dieser Frage beschäftigt sich Prof. Dr. Srirupa Roy, Leiterin der Forschungsgruppe "Staat und Demokratie im modernen Indien" am Centre for Modern Indian Studies der Universität Göttingen. Beim vergleichenden Blick auf wesentliche Herausforderungen und Fragestellungen der vergangenen 70 Jahre indischer Geschichte erkennt sie einerseits Entwicklungen. "Der Blick der Bevölkerung hat sich zunehmend auf die Welt ausgerichtet, orientiert sich an globalen Prozessen," erklärte sie, "Inder in internationalen Spitzenpositionen gelten zunehmend als Idole in ihrer Heimat." Bestimmte wiederkehrende Aspekte zögen sich jedoch erkennbar durch die "demokratische Reise" der vergangenen Jahrzehnte. Roy identifiziert dabei drei Leitthemen.
Experimente, Unterschiede, Widersprüche
"Als eine der ersten Kolonien, die weltweit ihre Unabhängigkeit erlangten, blickte Indien in eine unbekannte Zukunft," erläuterte Roy, "es galt, Strukturen für eine Demokratie zu finden, die Armut, Fläche, ethnischen und sprachlichen Differenzen standhalten würde." Dass die indische Verfassung mit 395 Artikeln die längste geschriebene der Welt ist, sei kein Zufall: "Anleihen kamen aus der ganzen Welt, oft führte das zu hybriden Lösungen", so Roy. Überschneidungen wie freier Markt und Planwirtschaft, Bundesstaatlichkeit und lokale Macht, Freiheitsrechte von Individuen und Gemeinschaften zugleich, seien nur einige offensichtliche Beispiele. "Das ist eine fragile Sammlung von Versatzstücken," differenzierte Roy, "Demokratie ist in Indien Experiment und Prozess, kein fertiges Produkt." Bei der Vielzahl von Sprachen, Religionen und Ethnien sei die Basis für eine nationale Einheit zudem eher das Konstrukt einer bürgerlichen Verfassung. "Dabei dienen all die Unterschiede aber als Quelle der Kraft - Respekt, Repräsentation und Balance sind eine ständige produktive Herausforderung", erklärte Roy. Freiheit trotz all der Ungleichheiten zu ermöglichen, sei von Anfang an ein schwieriges Ziel gewesen. Bhimrao Ramji Ambedkar, der als Justizminister der ersten unabhängigen Regierung heute als Vater der indischen Verfassung gilt, habe bereits im Jahr 1949 darauf hingewiesen, es gelte, "in ein Leben der Widersprüchlichkeiten einzutreten". Er sei dabei als Angehöriger der Dalit, der sogenannten "Unberührbaren", selbst ein Opfer sozialer Ungleichheit gewesen. "Heute lösen sich politische Ausdrucksformen zunehmend aus den etablierten Strukturen," erläuterte Roy, "Medien und bürgerschaftlicher Aktivismus spielen eine immer größere Rolle."
Vergleichbar mit der Europäischen Union
"Indien ist überwältigend, eigentlich kaum zu fassen", stellte Jürgen Webermann fest. Der Radiojournalist ist seit 2013 als Korrespondent unter anderem für den ARD-Hörfunk unterwegs. "Gerade in seiner Vielschichtigkeit und Ausdehnung ist es eine unendliche Quelle an Themen", ergänzte er. Er vergleicht Indien mit der Europäischen Union: Eine Föderation von 29 Staaten, mit 22 anerkannten Landessprachen und zahlreichen Ethnien - parlamentarische Arbeit ohne Übersetzer ist unmöglich. Außerdem sei Indien ein Land der Extreme, größter Armut und größten Reichtums. Tatsächlich sei es dabei unverzichtbar, sich in historische Hintergründe einzuarbeiten. Alleine die Beziehungen zu den Nachbarstaaten seien hochkomplex. "Die Auswahl von Themen für die Berichterstattung erfordert dabei Sensibilität", erklärte Webermann. Er halte es für viel wichtiger, Hintergründe bedeutender gesellschaftlicher Entwicklungen zu beleuchten, statt jede Demonstration und jeden Skandal einzeln zu erzählen. "Das wäre unfair dem Land gegenüber," ergänzte er, "detailverlorene Aktualität kann auch verzerren."
Gandhi heute
"Um zu verstehen, welche Perspektiven Gandhi im Laufe der Jahrzehnte auf Indien entwickelte, ist eine Kontextualisierung seiner sehr umfangreichen Schriften wesentlich", gab Prof. Dr. Gita Dharampal-Frick zu bedenken. Es gelte, die jeweiligen historischen Mentalitäten und Pluralitäten zu bedenken. Prof. Dr. Srirupa Roy ergänzte: "Gandhi hat sich als Journalist ja auch der Medien bedient, um sich zu inszenieren, das macht einen differenzierten Blick nicht einfacher." Dennoch, darauf wies Dharampal-Frick hin, habe er es abgelehnt, "Vater der Nation" zu sein: "Gandhi wollte keinen Gandhiismus." Vielmehr forderte er die Menschen auf, sie selbst zu sein, niemanden nachzuahmen, keinen Ideologien zu folgen. "Er zog die Selbstverwaltung immer der Regierung von oben vor", erläuterte Dharampal-Frick. Dennoch sei die Symbolkraft, die er als historische Figur für Indien hat, noch immer wichtig.