Warum es vernünftig ist, von der Unvernunft auszugehen
Über Jahrhunderte geisterte ein Gespenst durch die Wirtschaftstheorie: der "homo oeconomicus". Dieser stets rational seinen Nutzen maximierende Marktteilnehmer soll, folgt man dieser Denkweise, kraft seiner Eigenschaften auch noch für die Rationalität des Marktgeschehens gesorgt haben. Eine Fiktion – da waren sich alle Experten beim 4. Forum Politik-Wirtschaft-Gesellschaft der VolkswagenStiftung in Schloss Herrenhausen einig. "Von der Vermessung der Unvernunft unseres Handelns" war denn auch die von der WDR-Journalistin Tanja Busse moderierte Veranstaltung am 19. November 2013 betitelt. Wie man mit der Einsicht, dass es vernünftig ist, von der Unvernunft auszugehen, im wirtschaftlichen Alltag umgehen kann, erläuterte der Mannheimer Professor für Bankbetriebslehre, Martin Weber. Er stellte das Konzept der Behavioral Finance, einem Teilbereich der Verhaltensökonomik vor, mit dem man das reale Verhalten der Menschen und die Folgen für die Märkte untersucht. Menschen, so seine Beobachtung, verschließen sich gern der allseits bekannten Einsicht, dass hohe Renditen stets mit hohen Risiken verbunden sind. Die Geldentwertung und damit der Unterschied zwischen nominalen und realen Vermögenswerten werden ignoriert. Es sei bekannt, dass man seine Investitionen streuen sollte – und doch verhielten sich die meisten anders. So entnahm Weber einer Studie, dass sich beispielsweise ausgesprochen viele Ludwigshafener - auch die Angestellten – auf BASF-Aktien konzentrierten und damit alles auf eine Karte setzten. Investitionsfonds sollte man lange halten, aber tatsächlich würden sie im Durchschnitt alle drei Jahre gehandelt – zur Freude der Banken, die dabei Provisionen kassieren. Was tun? Die Kunden müssen sich Informationen beschaffen, genau darauf achten, was hinter mancher Formulierung steckt, und sie sollten sich an erprobte Regeln halten. Es lohnt sich, so Weber, sich beim Kauf von z.B. Aktien oder Gold immer zu fragen "Wer verkauft mir etwas und ist derjenige dümmer als ich?". Eingriffe von außen hält Weber für problematisch, verwies aber auf das in der Fachwelt diskutierte "nudging", das "Anstupsen", mit dem per "sanftem Paternalismus" die Bürger zu vernünftigerem Handeln (etwa durch entsprechend formulierte Informationen oder Formulare) gebracht werden sollen.
Während Webers Ansatz den Einzelkunden und seine Bedürfnisse im Auge hatte, stellt die Untersuchung, deren Ergebnisse die Volkswirtin Nora Szech erläuterte, auf die gesellschaftliche Dimension wirtschaftlichen Handelns ab. In ihrer mit Armin Falk erarbeiteten Studie "Morals and Markets" konnte sie anhand eines Experiments mit Studenten zeigen, dass Märkte moralisch korrumpieren, also dazu anregen, seinen eigenen moralischen Grundsätzen zuwider zu handeln. Die Testteilnehmer konnten in unterschiedlichen Settings mit dem Leben von Mäusen handeln. Je unübersichtlicher das Marktgeschehen war, je mehr Käufer und Verkäufer in den Marktmodellen des Tests auftraten, desto eher waren die Testpersonen bereit, den Tod der Tiere in Kauf zu nehmen. In der börsenähnlichen "multilaterialen Auktion" entschlossen sich rund 70 % der Teilnehmer für das Geld und gegen das Leben der Maus. Ohne das Marktgeschehen entschieden sich 40 % dafür, die Maus sterben zu lassen. Der Grund für die Zunahme: Man konnte die Schuld und Verantwortung gedanklich gleichsam verteilen und sich so – "wenn ich das Geschäft nicht mache, macht es ein anderer" – entlasten. Freilich haben das viele danach, als sie Distanz zur Marktsituation hatten, bereut. Szech fragte mit Verweis auf den in Harvard lehrenden Moralphilosophen Michael Sandel, welche gesellschaftlichen Bereiche wir dem Markt überlassen sollten. Das schließt die Frage ein, wie wir eigentlich leben wollen und welche Normen wir in einer Demokratie setzen wollen. Wenn das Aufklären nicht reicht, müsse der Markt stärker reguliert werden.