Was macht das Netz mit der Kultur?
Dass Digitalisierung mit ihrer Auswirkung auf den Kulturbetrieb ein Thema ist, das über den Kreis von computeraffinen Künstler(inne)n und Geisteswissenschaftler(inne)n hinaus auf großes Interesse stößt, zeigte das dicht besetzte Auditorium bei der öffentlichen Podiumsdiskussion im Rahmen der Herrenhäuser Konferenz "(Digital) Humanities revisited". Unter den Zuhörern waren viele, die noch in einer rein analogen Welt aufgewachsen sein dürften. Eingeladen zur Diskussion waren die Kulturwissenschaftlerin Mercedes Bunz, die an der Leuphana Universität Lüneburg das Hybrid Publishing Lab leitet, Bettina Wagner-Bergelt, Stellvertreterin des Direktors des Bayerischen Staatsballetts, sowie Jürgen Kaube, Leiter des Ressorts "Geisteswissenschaften" der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Peter Weibel, einer der Pioniere der theoretischen Reflexion über die Potentiale der Digitalisierung und deren Anwendung, musste leider krankheitsbedingt absagen.
Moderiert von Jürgen-M. Edelmann galt es zunächst, sich darüber zu verständigen, was man unter Kultur versteht. Für Jürgen Kaube ist Kultur zunächst alles, was die Menschheit hervorgebracht hat, seien es Objekte, Konventionen oder Traditionen – was ihn interessiere, sei der Vergleich. Wagner-Bergelt wies darauf hin, dass Kultur und Kunst oft gleichgesetzt würden, wobei verwischt werde, dass Kunst der weitaus konkretere Begriff sei, beziehe sich Kultur doch letztlich auf ein weitaus breiteres Spektrum der Realität. Bunz, die mehrere Jahre für die englische Zeitung The Guardian tätig war, erinnerte an die spezifisch deutsche Verwendungsweise des Wortes "Kultur" und daran, dass es kaum ein Land auf der Welt gebe, in dem Kultur so wichtig genommen werde.
"John Neumeier wollte das Wort Livestream noch nicht mal in den Mund nehmen."
So weit, so gut. Doch wie verändert nun die Digitalisierung die Kultur? Die Veränderung seines eigenen Verhaltens sei gar nicht gar nicht besonders groß, so Kaube. Was sich aus seiner Sicht aber vor allem verändert habe, sei die Menge des verfügbaren kulturellen Angebots. Wagner-Bergelt illustrierte dies mit der Nutzung digitaler Medien durch die Bayerische Staatsoper: Neben der Präsenz bei Twitter und Facebook bietet die Staatsoper mehrere Male im Jahr kostenlose Liveübertragungen von aktuellen Aufführungen im Internet, um den Rezipientenkreis zu erweitern. Nicht alle Beteiligten seien damit gleich einverstanden gewesen. John Neumeier, dessen Nussknacker-Inszenierung im Dezember vergangenen Jahres per Livestream im Internet übertragen wurde, habe mit dieser Art der Kunstvermittlung nur wenig anfangen können – größeren Widerstand leistete er freilich nicht.
Bunz wies darauf hin, dass die Kritik vieler Kulturschaffender an der Digitalisierung auf einer diffusen Angst vor technischen Neuerungen basiere. Man gebe der Technik die Schuld an allen möglichen Fehlentwicklungen, wisse im Grunde aber gar nicht, was technisch dahinterstehe. Pauschale Kritik am Internet sei problematisch: Es handele sich ja um ein immer noch relativ junges Massenmedium, dessen Entwicklung nicht abgeschlossen sei. Bei Fehlentwicklungen solle nicht die Technik kritisch betrachtet werden, sondern die Menschen, deren Interessen dadurch bedient würden. Jürgen Kaube wendete sich dann dem Thema Zeitungen zu, die durch das Internet Leser und Einfluss verlören; eine grundsätzliche Bedrohung wollte er darin allerdings nicht sehen. Maschinengestützte Verfahren bedrohten allenfalls die formalisierten oder die unterkomplexen Teilbereiche der Printmedien, nicht jedoch den sogenannten Qualitätsjournalismus. Wenn automatisierte Rechenverfahren etwa zum Ende des Boulevardjournalismus führten, könne er sich damit durchaus abfinden, meinte Kaube.