Wenn Gesunde krank sind
Bei dem Forum Mensch – Natur – Technik "Wie lange darf man traurig sein?" diskutierten Experten im Schloss Herrenhausen die Frage, warum plötzlich etwas Krankheit heißt, was vorher keine Krankheit war. Und was heißt überhaupt gesund? Sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft der ständig um Krankheit besorgten Gesunden? Welche Folgen hat die Diagnosewut für die betroffenen Menschen hinsichtlich einer möglichen Stigmatisierung?
Keine Zunahme der Erkrankungen
Für den Professor für klinische Psychologie, Frank Jacobi, gehören psychische Erkrankungen genauso zum Leben wie Bluthochdruck oder Migräne. In einem ersten Impulsvortrag gab er aber zumindest Entwarnung, was die Anzahl der diagnostizierten Fälle betrifft. Denn obwohl es die ansteigenden statistischen Werte anders vermuten lassen, hat die Zahl der tatsächlich Erkrankten in den vergangenen 15 Jahren seiner Einschätzung nach nicht zugenommen. "Es gibt lediglich mehr Diagnosen, früher waren es eher zu wenige", erklärte der Psychotherapeut von der Psychologischen Hochschule Berlin. Die steigende Zahl der Diagnosen ist auch ein Resultat des ständigen Ausbaus von Klassifizierungssystemen wie dem DSM, die Jacobi in der Psychiatrie prinzipiell für notwendig hält. "Psychische Störungen umfassen ein weites Spektrum", erklärte der Experte. Es gebe bei deren Diagnose – anders als in der klassischen Medizin – keine konkreten Laborparameter oder technischen Instrumente, die helfen könnten. "Deshalb müssen die Krankheitsbilder genau beschrieben werden."
Trauer ist eine normale Reaktion
Das ist einerseits ein Gewinn: Betroffene profitierten, da sie im Gegensatz zu früheren Jahren nicht bei jedem Therapeuten eine andere Diagnose erhalten. Andererseits müsse man die Klassifizierungen auch durchaus kritisch sehen, sagte der Psychotherapeut und zog das Ausgangsbeispiel heran. "Trauer ist eine normale Reaktion, lediglich bei zehn Prozent der Betroffen kann es im Verlauf zu einem krankhaften Ausmaß kommen." Auch Eigeninteressen von Therapeuten und der Pharmaindustrie, die bei der Entstehung von Diagnosehandbücher um Einfluss bemüht sind, müsse man im Blick behalten, sagte Jacobi.
Der Hamburger Professor Thomas Schramme sieht die zunehmende Diagnosewut seiner Kollegen aus der Psychologie kritisch. Der Philosoph, der von der VolkswagenStiftung als Opus-Magnum-Stipendiat unterstützt wird, um sich ganz seiner Forschungsarbeit widmen zu können, problematisierte das Festhalten an bloßen Kriterien. "Es gibt Menschen, die unter dem, was wir psychiatrische Störungen nennen, gar nicht leiden", sagte er. Diese Personen sind also den Kriterienkatalogen folgend krank, ihrem eigenen Empfinden nach aber gesund. "Die Frage ist, wie gehen wir damit um?", konstatierte Schramme.
Wenn Lebensprobleme zu medizinischen werden
Seinen Lösungsansatz leitete der Philosoph mit einem Vergleich ein. Es sei wie mit einem gemalten Bild, das man einerseits analytisch betrachten könne, etwa im Hinblick darauf, wie viel Farbe verwendet wurde. Andererseits könne man aber auch über den ästhetischen Wert sprechen. Doch welche Perspektive ist die vorrangige? In Bezug auf die Diagnose psychischer Störungen wäre ein Weg, zunächst herauszufinden, in welchem Bereich sich die feststellbaren pathologischen Befunde bewegten, sagte Schramme. Die nächste Frage sei, ob der Betroffene darunter leide. Im umgekehrten Fall hätten die Urteile mitunter fatale Folgen, denn es gebe viele psychologische Phänomene, unter denen Menschen leiden, die aber keinen Krankheitswert im wissenschaftlichen Sinne erfüllten. "Alles, was wir potenziell schlecht finden an unserer Psyche, kann dann auch zu einem medizinischen Problem werden", erklärte Schramme. Allgemeine Lebensprobleme in medizinische umzudefinieren, das ist nach Ansicht des Philosophen jedoch kein Lösungsansatz.
In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von der Redaktionsleiterin des Fachmagazins "Gehirn+Geist", Christiane Gelitz, moderiert wurde, kam ein weiteres gewichtiges Thema zur Sprache – die Stigmatisierung von Betroffenen. Dem Verein "irre menschlich" aus Hamburg ist es ein großes Anliegen, für mehr Toleranz im Umgang mit psychisch Erkrankten zu werben. Ein Vertreter der Organisation ist Professor Thomas Bock, der sich zu der Expertenrunde gesellte und deutliche Worte fand. "Wenn jemand psychotisch wird, ist nicht der Stoffwechsel im Gehirn der Auslöser", sagte der Psychologe. "Das ist Schwachsinn!"
Jeder hatte schon mal eine Depression
Man habe in der Psychiatrie angenommen, dass die festgelegten Krankheitsbegriffe den Menschen die Ängste nehmen, sagte Bock. Das Gegenteil sei der Fall, wie Untersuchungen gezeigt hätten. Die Folge ist eine verstärkte Stigmatisierung der Betroffenen. Bocks Einschätzung nach gibt es viele verschiedene Gründe, die zu psychischen Störungen führten. Wer letztere jedoch auf rein körperliche Aspekte zurückführe, trage ebenfalls zur Stigmatisierung bei. "Jeder hatte hier schon mal eine Depression", gab der Hamburger Psychologe zu bedenken. "Es ist ein Schutzmechanismus, quasi eine Auszeit in bestimmten Situationen." Dies zu pathologisieren, sei absurd. Am Beispiel eines Zwanzigjährigen, dessen Leben aus den Fugen geraten war, diskutierten die Experten schließlich die Frage, ab wann ein Mensch tatsächlich krank ist. Ein Patient Jacobis hatte eine Vielzahl von kleineren Problemen im Alltag. Sie führten dazu, dass der junge Mann in Gesellschaft unter körperlichen Angstsymptomen wie heftigem Schweißausbrüchen litt. Seine Sorgen ertränkte er zunehmend im Alkohol. Die Summe der Probleme habe Jacobis Ansicht nach eine Behandlung gerechtfertigt. "Der Psychiater ist ein Weg, vielleicht hätte ihm aber auch ein Pfarrer oder Freund im Gespräch helfen können", entgegnete Bock. Schramm bezeichnete den im Fallbeispiel gewählten Gang zum Psychiater als typisch für die Gesellschaft, in der wir leben. "Und die tendiert dazu, medizinischen Fachverstand in Anspruch zu nehmen, genauso wie man sein defektes Auto eben auch zum KFZ-Mechaniker bringt." Stephan Fuhrer