Wider die Orientierungslosigkeit: Forum thematisiert gute Ernährung
Einfach nur satt werden war vorgestern, einfach nur lecker essen gestern. Heute ist Ernährung ein komplexer Ausdruck des Lebensstils, so die Expert(inn)en auf dem Herrenhäuser Forum. Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Forum am 8. Oktober 2015.
Ein allgegenwärtiges Thema
"Was gab's bei Ihnen zum Frühstück?" Moderator Mike Beckers, Redakteur der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft", stellte diese Frage in den Raum. Damit brachte er gleich zu Beginn der Veranstaltung "Auf den Spuren guter Ernährung" ihr Thema auf den Punkt: Einerseits sei Ernährung alltäglichen Routinen unterworfen und damit oft eine intuitive Handlung. Andererseits gebe es genug bewusste Entscheidungssituationen. "Wir definieren uns darüber, was wir essen und wie wir es tun", erklärte der Wissenschaftsjournalist und erzählte davon, dass er sich bei der Anreise nach Hannover am Bahnhof zwei Magazinen gekauft habe: "Eines für Veganer – und eines für Fleischliebhaber."
Neben sozialen Faktoren stünden jedoch zunehmend auch naturwissenschaftliche im Fokus. Was ist gutes Essen? Was tut uns gut? Dies seien Leitfragen geworden. Dabei ginge es längst nicht mehr um Pauschalisierungen, so Beckers: "Ernährungsstrategien werden immer personalisierter." Zum Zweck der Selbstoptimierung sei es heute üblich, immer mehr Daten zu sammeln. Solch gesundheitliche Totalüberwachung sei umstritten. Ein besseres Leben stünde oft neuen gesellschaftlichen Zwängen gegenüber: "Können wir eigentlich noch unbeschwert genießen?"
Wie wir beim Essen ticken
PD Dr. med. Thomas Ellrott warnte vor zu schnellen Antworten auf solche großen Fragen. Der Mediziner leitet das Institut für Ernährungspsychologie der Universität Göttingen. "Warum essen wir das?" ist seine zentrale Frage, auf die er eine ganze Reihe von möglichen Antworten präsentierte. Hedonismus sei immer noch eines der wichtigsten Motive, so Ellrott. Doch neben Genuss und Geschmack sei bereits vor Jahrzehnten der Aspekt der so genannten "Convenience" getreten, der in einem entsynchronisierten Alltag an Bedeutung gewinne: "In einem individualisierten Tagesprogramm muss es oft schnell und einfach gehen." Der Preis von Nahrung sei als dritter Entscheidungsgrund vor allem in Deutschland verbreitet, ergänzte Ellrott: "Wir sind Weltmeister im billig Essen."
Jenseits des bewussten Verhaltens lassen wir uns vor allem von Gewohnheiten bestimmen. "Unser Essverhalten ist durch extrem hohe Wiederholungsfrequenzen eingraviert", verdeutlichte der Forscher. Ob wir uns bei der Ernährung intuitiv oder rational verhalten, sei vom Kontext abhängig. Beide Entscheidungssysteme interagieren. Meist überwiege das intuitive, es sei jedoch offen für Lernerfahrungen.
Die Bedeutung des Einzelnen
"Konsumenten sind nicht uniform", benannte Thomas Ellrott den wesentlichen Ansatz seiner Studien der vergangenen Jahre, "im Einzelfall entscheidet jeder komplett anders." Noch im Jahr 2011 habe eine Nestlé-Studie, an der er beteiligt war, drei Kategorien definiert. Jeweils zu einem Drittel handelten die Verbraucher demzufolge gesundheitsbewusst, gleichgültig und inkonsequent. Bereits im folgenden Jahr differenzierte das Kölner Rheingold-Institut mindestens zehn verschiedene Ernährungstypen, von "Wild Boys" über "Salatsingles" und "Große Kinder" bis zu "Food Posern". Die aktuelle Nestlé-Studie versuche, für das Jahr 2030 zu prognostizieren, so Ellrott. Sie fasse die fortschreitende Pluralisierung dabei in Motivationsszenarien wie das Schonen von Ressourcen oder Selbstoptimierung. Den Grund für die Ausdifferenzierung von Ernährungsstilen jenseits medizinischer Notwendigkeiten sieht Ellrott in einer heutigen "Welt ohne Grenzen", in der die Sehnsucht nach Verortung, Zugehörigkeit und Sinn wachse.
Inszenierung für die anderen
"Wer bin ich?" sei zur zentralen Frage geworden, erklärte Ellrott. "Soziale Zugehörigkeit ist heute durch Selbstinszenierung besser modellierbar", führte er aus und bezeichnete extravagante Ernährungsstile als "Social Tattoos", die helfen sollen, sich zu unterscheiden. Es ginge um Attribute wie Selbstdisziplin oder Verantwortlichkeit, jedoch nicht so sehr um eine konsistente Haltung. "Das Ablehnen von Massentierhaltung und günstige Lebensmittelpreise müssen plötzlich zusammenpassen", wunderte sich Ellrott und nannte dies eine "Kultur der Widersprüchlichkeiten". Dabei spiele oft Außenwahrnehmung die größte Rolle, bis hin zur Bevormundung Dritter. "Gesundheit allerdings", so Ellrott, "ist kein primäres Motiv bei Essensentscheidungen."
Gesunde Ernährung als Wirtschaftsfaktor
"Schnallen Sie sich an", warnte Prof. Dr. Hannelore Daniel zu Beginn ihres Vortrags über die Zukunft personalisierter Ernährung. Sie lehrt Ernährungsphysiologie an der Technischen Universität München und erforscht unter anderem Zusammenhänge von Stoffwechsel und Genom. Sie äußerte Verständnis für Menschen, die nicht in der Welt leben möchten, die sie skizzierte: einer Welt der kommerzialisierten Personalisierung. "Business Today nennt Distinktion ein Mantra des Millenniums – und Ernährung ist nur ein Teil davon", berichtete Daniel. Der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew habe in seinem Modell ökonomischer Zyklen die integrale Gesundheit als jene sechste Welle beschrieben, welche die Wirtschaft nachhaltig antreiben wird. Der relativ neue Zusammenhang zwischen Lebensmitteln und Gesundheit sei ein bedeutendes Geschäftsmodell, so Daniel. Dabei stellte sie die wissenschaftliche Nachweisbarkeit dieses Zusammenhangs infrage: "Selbst wenn wir nur gesunde Lebensmittel essen würden, wenn es die denn gäbe – die Summe wäre nicht a priori Gesundheit."
Überwachungstechniken auf dem Vormarsch
Dennoch sei die Sehnsucht nach sinnvoller Ernährung ohne gleichzeitigen Aufwand groß, führte Hannelore Daniel aus. Die Hälfte der Befragten würde sogar einer Genotypisierung zustimmen, wenn es helfen könnte, ihren Nahrungsmittelkonsum zu optimieren. Die Hardware, um sein Genom bald selbst zuhause am Computer bestimmen zu können, sei bereits entwickelt, so Daniel. Sie sei in wenigen Jahren marktreif.
Die Wissenschaftlerin war sich sicher: "Immer mehr technische Hilfsmittel zum Gesundheitsmonitoring werden den Markt erobern." Dazu zählen Apps, die in der Lage sind, anhand eines Fotos zu erkennen, wie nährstoffreich eine Mahlzeit ist – und solche, bei denen die Schwarmintelligenz über den Gesundheitswert des Essens entscheiden soll. Einerseits bezeichnete Daniel die technische Selbstüberwachung als eitel, das Vermessen von Lebensinhalten zum Beispiel im Netzwerk "Quantified Self" als obsessiv. Andererseits hält sie wissenschaftliches Datensammeln für wichtig, um mehr über Krankheiten in einer sich auch demografisch verändernden Gesellschaft zu lernen.
Entscheidungshilfe als Motivation
Als häufige Motivation, an Programmen und Systemen für eine personalisierte Lebensweise und Ernährung teilzunehmen, benannte Hannelore Daniel eine um sich greifende Unsicherheit. Aus "Ich weiß nicht mehr, was richtig ist" werde schnell "Ich vertraue Ihnen, machen Sie das für mich". Dies habe auch den Erfolg des Projektes "food4me.org" ausgemacht, so Daniel, in dem 1.600 Menschen in sieben Studienzentren in einem Wechsel aus Ernährungsanamnese und Beratung betreut wurden. Dabei sei eine gesundheitliche Verbesserung bei den Probanden vor allem durch die bewusstere Beschäftigung mit dem Thema eingetreten, folgerte sie.
Auch hier sei es aber letztlich um eine Entlastung in Entscheidungssituationen gegangen: "Am Ende stand ein Wochenplan mit drei Mahlzeiten am Tag, inklusive persönlicher Vorlieben." Übertroffen werde dies noch von Restaurants in New York, die auf dieser Grundlage personalisierte Menüs anbieten. Diese Entwicklung sei unaufhaltsam, prophezeit Daniel – "auch wenn das natürlich eigentlich keiner braucht".
Blick zurück
Prof. Dr. Eva Barlösius ist es ein Bedürfnis, die Perspektive zu verschieben. Beide Vorträge repräsentierten Disziplinen mit eher kurzen Betrachtungszeiträumen, erklärte die Soziologin von der Leibniz Universität Hannover. Dabei zeige ein Blick in die Geschichte, dass Ernährungsstile als "Social Tattoos" keine neue Entwicklung seien. Bereits im antiken Griechenland habe sich die individuelle Haltung über Essen ausgedrückt, so Barlösius: "Die Pythagoreer zum Beispiel waren Vegetarier aus einer politischen Protesthaltung heraus." Menschheitsgeschichtlich sei Nahrung das zentrale Thema, an dem sich alles ablesen ließe, erklärte Barlösius, bis hin zu Religion, Geschlechterverhältnis oder Wohlstand. Dabei seien die Grundmuster immer die gleichen geblieben, ob in Antike, Mittelalter oder Neuzeit. "Gewaltlosigkeit, Bewusstheit oder Natürlichkeit genossen in der Ernährung schon immer ein hohes Ansehen", erläuterte die Wissenschaftlerin. Als bewusste Provokation formulierte sie die These: "Seit der Antike gilt eine mäßige und abwechslungsreiche Ernährung als Ideal – das reicht auch heute als Faustregel."
Irrwege in der Theorie
Prof. Dr. Andreas Hahn verwies auf den gewandelten Anspruch an Ernährung. Der Lebensmittelwissenschaftler von der Leibniz Universität Hannover spielte auf die zahlreichen Irrwege an, die die Wissenschaft gegangen sei, seit es um das Erzielen langfristiger Gesundheit ginge und nicht mehr um das Kompensieren von Mangelerscheinungen. Als Beispiel nannte er die angeblichen Erkenntnisse um freie Radikale und Antioxidantien vor etwa zehn Jahren, die sich schließlich als substanzlos erwiesen: "Die Gesellschaft hat jahrelang völlig umsonst Vitamin E geschluckt." Der menschliche Organismus sei nun einmal zu komplex, um mit nur einer kleinen Stellschraube alles zu verändern, so Hahn. Wie variabel der Stoffwechsel sei, lasse sich an den unterschiedlichen angepassten Ernährungsweisen von Kulturen auf der ganzen Welt beobachten. Naturwissenschaftliche Theorien seien wichtig, sagte er, aber ebenso auch deren Überprüfen durch die Gesellschaftswissenschaften: "Das Problem ist oft kein Wissensdefizit, sondern ein unzureichendes Umsetzen des vorhandenen Wissens in der Praxis."
Erfolge in der Praxis
Thomas Ellrott wies darauf hin, dass durch eine bewusste Ernährungsumstellung im entsprechenden Maßstab Gesundheit durchaus langfristig beeinflusst werden könne: "Dafür bedarf es aber einer Veränderung des gesamten Lebensstils, es muss also an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden." Als Beispiel nannte er die deutliche Verbesserung der Sterblichkeitsrate in Nordfinnland, nachdem dort in den 1970er Jahren eine mediterranere Ernährung nach dem Vorbild Kretas propagiert wurde: "Damit kann man auch ohne Genanalyse einiges ausrichten." Allerdings räumte Ellrott ein, dass eine personalisierte Ernährungsempfehlung mit Kontrollgadgets die Motivation solcher Umstellungen verbessern könnte.