Wie Fußball um die Welt ging
"Mittlerweile ist eine WM jedoch eine herausragende Gelegenheit, ein Land und seine Mannschaft nach außen zu repräsentieren." Nicht nur der Slogan "Die Welt zu Gast bei Freunden" von 2006 spiegelt dies wider. Neben der Popularität des Fußballs unter Politikern – so besucht die Bundeskanzlerin inzwischen regelmäßig Spiele der Deutschen Nationalmannschaft - sprechen auch die enormen Summen eine deutliche Sprache, die von verschiedenen Organen allein in die Stadien Aus- und Umbauten flossen. "Die 70er Jahren und die WM im eigenen Land waren entscheidend für den Aufstieg des Fußballs", konstatierte der Historiker. In den Folgejahren stiegen die Spieler zu Großverdienern auf, durch gutes Marketing manche, wie Franz Beckenbauer, gar zu Weltstars. "Fußball wurde zur Ware", erklärte Schiller und führte Beispiele wie Sponsorenverträge und Fernsehübertragungsrechte auf.
Von Europa in die ganze Welt
Der anschließend vortragende Geschichtswissenschaftler Prof. Dr. Stefan Rinke weitete den Blick auf die Historie des Fußballs in Lateinamerika aus. Ausgehend von Großbritannien, wo der Sport sich Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, schwappte er zunächst über auf das europäische Festland. Zudem brachten die Briten ihn aber auch mit nach Lateinamerika, wo er eine Eigendynamik sowohl hinsichtlich der Art und Weise entwickelte, wie die Spieler mit dem Ball umgingen, als auch, wie die Zuschauer das Ereignis "Fußballspiel" feierten. "In Lateinamerika hat Fußball eine wichtige Funktion im kulturellen Leben, es wird dort viel stärker als Spektakel angesehen, als dies in Europa der Fall ist", berichtete Rinke.
Wie konnte gerade diese Sportart über die Jahrzehnte so viele Menschen für sich einnehmen? Rinke führte die vier Thesen des deutschen Soziologen Norbert Elias an: Die Anspruchslosigkeit, die es erlaubt, Fußball überall zu spielen, ohne dass eine besondere Ausrüstung oder ein teurer Ball notwendig sind, ist einer der Gründe. Hinzu kommen die Körperbetontheit, die früher oft mit Männlichkeit oder Mannhaftigkeit gleichgesetzt wurde, die Emotionen, die das Spiel entfachen und für die es zudem ein Ventil sein kann, sowie der Ritualcharakter in Form von Fangesängen und Stadionbesuchen. Diese Faktoren machen nach Ansicht des Wissenschaftlers auch heute die Attraktivität des Fußballs aus.
Interkontinentale Öffnung des Fußballturniers
Als bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris mit Uruguay erstmals ein südamerikanisches Land an dem Fußballturnier, das erst 1930 als eigenständige Weltmeisterschaft außerhalb Olympischer Spiele ausgetragen wurde, teilnahm, begannen sich die Welten zu verschieben. Denn bis dato waren vor allem die Europäer für ihr Können am Ball bekannt, 1924 jedoch gewann Uruguay im Finale mit 3:0 klar gegen die Schweiz. "Der Olympiagewinner galt als weltbeste Mannschaft", erläuterte Rinke. "In der Folge tourten Südamerikanische Mannschaften monatelang durch Europa, wohingegen zuvor noch die Europäischen Mannschaften in Südamerika ihr Können zeigten." Im Anschluss begann zudem eine Globalisierung des Fußballs, da beispielsweise die Italiener bei vielversprechenden Spielern aus Argentinien italienische Wurzeln erkannten und diese Spieler mit gutdotierten Verträgen nach Italien holten. "Fußball hat sich in Lateinamerika mit der Zeit zu einem wichtigen Fenster für sozialen Aufstieg entwickelt", erklärte Rinke.
Von der Theorie zur Praxis
Nach diesen theoretischen, historischen und gesellschaftspolitischen Betrachtungen folgten in der Podiumsdiskussion einige Einblicke in die Praxis des Fußballbetriebes. Bernd Franke, mehrfacher deutscher Nationalspieler, berichtete etwa von einer Reise im Vorfeld der WM 1978 nach Argentinien: "Von den Unruhen, die seinerzeit in Argentinien herrschten, haben wir als Spieler gar nichts mitbekommen. Wir wurden total abgeschirmt." Von einer anderen Fußball-WM wusste Marco Bode zu berichten. Er wurde als Nationalspieler Vizeweltmeister bei der WM in Japan und Südkorea im Jahr 2002 wurde: "Viele Dinge kamen damals künstlich daher, die Verbindung der beiden Nationen Japan und Südkorea wurde nicht gelebt. Trotzdem war das fehlende ‚Know-How ‘ der Zuschauer in den Stadien gepaart mit einer sehr großen Begeisterung." Das heutige Mitglied im Aufsichtsrat des SV Werder Bremen hat die WM als "exotisch" in Erinnerung und war zudem überrascht, welche Euphorie der Mannschaft trotz des verpassten Weltmeistertitels in der Heimat entgegen schlug.
Fußball beeinflusst die gesamte Gesellschaft
Bode äußerte sich außerdem positiv darüber, dass sich das deutsche Verständnis von Nationalität über die Jahre stark verändert hat und das Miteinander verschiedener Kulturen in den Ligen und Mannschaften hier heute keine Rolle mehr spielt. Der ehemalige Fußballer ist Mitglied im Kuratorium der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Kurator in der Stiftung Jugendfußball, die nicht nur die Entwicklung des Nachwuchses fördert, sondern auch die Entwicklung der Gesellschaft durch den Fußball im Fokus hat.
Stefan Rinke ergänzte, dass vor allem in Lateinamerika der latente Rassismus innerhalb der Gesellschaft noch nicht getilgt sei, diese Aufgabe angesichts der sozialen Ungleichheit verglichen mit Europa jedoch enorm groß sei. Diese sozialen sowie weitere Probleme, die sich beispielsweise auch in dem aktuell immensen Verkehrschaos in Brasilien zeigten, würden durch eine Weltmeisterschaft auch außerhalb des Gastgeberlandes ins Bewusstsein rücken.
Finanzieller Erfolg als einzige Triebfeder?
Zum Ende der Diskussion wurde der Fokus nochmals auf die monetäre Seite einer Fußballweltmeisterschaft heutzutage gelenkt. "Eine WM dreht sich nur noch ums Geld", monierte Bernd Franke. "Die Spieler könnten sogar vor leeren Stadien spielen, die Gelder von den Fernsehübertragungsrechten gleichen dies problemlos aus." Dem entgegnete Marco Bode , dass die Kommerzialisierung den Fußball auch attraktiver gemacht hat und solche Großereignisse wie eine WM eine Chance geben, ein Land näher kennenzulernen und über den Fußball hinaus Informationen etwa über soziale Probleme zu erhalten. Auf die Abschlussfrage des moderierenden Dr. Wilhelm Krull, wer denn nun in diesem Jahr Favorit für den Weltmeistertitel sei und wie die deutsche Nationalmannschaft abschließen würde, wagten die Experten keine einheitliche Festlegung. Bode hielt Brasilien für stark, Rinke tippte auf Chile, Franke vermutete Uruguay oder Argentinien in der Favoritenrolle und Schiller hofft auf Deutschland. von Tina Walsweer