Wie soll es mit der Wirtschaft in Zukunft weitergehen?
Das Veranstaltungsmotto "Ausgereizt – Ist der Kapitalismus alternativlos?" ist hierzulande erklärungsbedürftig. Wer unser Wirtschaftssystem mit dem Begriff "Kapitalismus" charakterisiert, gilt vielen seiner Befürworter bereits als dessen Gegner. Darauf zielte auch das einleitende Statement von Stephan Lohr, der das Herrenhäuser Gespräch im Schloss Herrenhausen moderierte. Kapitalismus, unterstrich er, sei ein Reizwort. Lohr verwies auf den "polemischen Anteil" des Begriffs, der einst – zu Zeiten des Ost-West-Konflikts – in der Auseinandersetzung von Plan- und Marktwirtschaft eine wichtige Rolle spielte. Auch nach dem Niedergang des Kommunismus bezweifelten viele, ob angesichts von Hunger, Ungleichheit oder ökologischen Problemen das siegreiche System auch das "bestmögliche" sei. Die an Lohrs Statement anschließende Diskussion gab einen Einblick in die aktuellen Kontroversen und die Vielfalt der Perspektiven. Zuvor erinnerte Lohr daran, dass an diesem Abend die 25. Ausgabe der gemeinsam von VolkswagenStiftung und NDR Kultur veranstalteten Herrenhäuser Gespräche stattfindet. Er dankte Dr. Wilhelm Krull, dem Generalsekretär der VolkswagenStiftung, für diese Kooperation und bedachte Katja Ebeling, die seit vier Jahren die Gesprächsreihe redaktionell betreut, mit einem Blumenstrauß.
Kapitalismus oder Marktwirtschaft
Wie problematisch der Begriff des Kapitalismus gerade bei den Anhängern unseres Wirtschaftssystems empfunden wird, machte Prof. Dr. Lars P. Feld deutlich. Der Professor für Wirtschaftspolitik in Freiburg und Mitglied der fünf Wirtschaftsweisen versuche, wie er betonte, diesen "Kampfbegriff vergangener Zeiten" immer zu vermeiden. Er zieht den "nüchternen" Begriff der Marktwirtschaft vor. Diese Wirtschaftsordnung biete zwar keine optimalen Ergebnisse, aber bessere Lösungen im Vergleich zu allen anderen Systemen. Als Vertreter der "Freiburger Schule" in der Tradition von Walter Eucken, dem Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, hält er es für notwendig, die Märkte zu kontrollieren und sie vor allem vor Vermachtung, etwa durch Kartellbildung, zu bewahren.
Antikapitalismus oder Kapitalismuskritik
Der Politikwissenschaftler Dr. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung hob in seiner Stellungnahme hervor, dass es mit Kapitalismus versus Marktwirtschaft nicht nur bei der Beschreibung des Wirtschaftssystems ein konkurrierendes Begriffspaar gebe, sondern auch bei dessen Kritik. Er unterschied Antikapitalismus einerseits und Kapitalismuskritik andererseits, mit der nicht automatisch eine "Systemfrage" verbunden sei. Der Antikapitalismus der außerparlamentarischen Opposition in den sechziger und siebziger Jahren sei von der Annahme bestimmt gewesen, dass Kapitalismus sich nicht mit Demokratie vertrage und notwendigerweise zum Faschismus führen müsse. Zwar sei mit der Occupy-Bewegung Kapitalismuskritik wieder aktualisiert worden, aber der Sozialismus als Gegenbild habe heute keine Durchschlagskraft mehr.
Für eine "Postwachstumsökonomie"
Wieder eine andere Sichtweise brachte Prof. Dr. Niko Paech, Umweltökonom an der Universität Oldenburg, ins Gespräch. Für ihn sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht identisch, weil letztere auch ohne Eigentum an Kapital möglich sei. Er und verwies dabei auf das Wirken von Genossenschaften. Paech hält allerdings Kapitalismuskritik für "Zeitverschwendung" und "populistisch". Hier werde ein Popanz aufgebaut, mit dem diese Kritiker sich als Opfer darstellten und sich von individueller Verantwortung freisprächen. So werde die Konsumentenmacht unterschätzt. Notwendig sei deshalb Konsum- und Industriekritik. Paech propagierte eine "Postwachstumsökonomie", in der eine Pluralität von Versorgungsmustern möglich sei. Ihm schwebt eine Kombination aus Selbstversorgung, Regionalökonomie und einem Rest von globaler Industrieversorgung vor, wobei letztere im Interesse der Umwelt zurückgebaut werden müsse.
Muss der Primat der Politik wieder hergestellt werden?
Ein ähnliches Konzept, wie er sagt, vertritt Wolf Lotter, Journalist und Buchautor ("Zivilkapitalismus. Wir können auch anders"). Er fordert die Bürger zu Partizipation auf, statt sich zu beklagen und die Verantwortung an andere zu delegieren. Dagegen hob der Schriftsteller Ingo Schulze das Gefühl der Bürger hervor, angesichts der Finanzkrise und ihrer Folgen machtlos zu sein. Schulze, der als einziger auf dem Podium eine klassische Kapitalismuskritik formulierte, beklagte eine Entpolitisierung sowie die Ökonomisierung von Lebensformen und Denken. Die Deregulierung der Finanzmärkte habe erlaubt, gierig zu sein. Die Märkte müssten, unterstrich er, anders gestaltet und der Primat der Politik wieder hergestellt werden. Aber dieser Primat sei doch nie verloren gegangen, meinte der Wirtschaftspolitikexperte Feld, auch wenn dies in Talkshows immer wieder behauptet werde. Die Verteilung von materiellen Ressourcen erreiche ein ähnliches Maß wie früher. Schulzes Hinweis auf eine Auseinanderentwicklung von Reichtum und Armut fand auch die Kritik von Lotter, der die langfristige historische Leistung des Industriekapitalismus ins Spiel brachte und die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten Erfolge bei der Abschaffung von Armut und der Erhöhung der Lebenserwartung pries.
Das Wirtschaftssystem ist schwer zu steuern
Neben der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaftsordnung gerieten auch deren Steuerungsmöglichkeiten in den Blick der Podiumsteilnehmer. Der Politikwissenschaftler Kraushaar meinte, die Logik dieses Systems sei nur begrenzt zu erfassen, vor allem, seit sich die Globalisierung normsetzend durchgesetzt habe. Niemand habe etwa voraussehen können, dass die elektronische Technologie zu einer Transformation des ganzen Systems mit Tiefenwirkungen auf die Subjekte führen würde. Auch Feld bestätigt, dass langfristige Prognosen kaum möglich seien. Er vertraut darauf, dass das System auch dann funktioniert, wenn es nicht ganz durchschaut werden kann, zumal Fehlentwicklungen korrigiert werden könnten. Mit diesem System sei auch das Problem der Knappheit von Ressourcen am besten zu lösen.
Die Verantwortung des Westens
Paech machte zudem auf die Verantwortung der Industrieländer aufmerksam. Afrikaner und Südamerikaner würden unseren Lebensstil zum Vorbild für ein gutes Leben nehmen – wir müssten ihnen mit dem Umbau unseres Systems ein anderes Beispiel geben. Auch Schulze wies darauf hin, dass wir den Dreck, den wir produzieren, exportieren. Das entsprach auch Kraushaars Einschätzung, dass wir die Umweltprobleme Chinas durch unser Interesse am Export von Autos mitproduzierten.
Vieles musste offen bleiben
Manche der Anregungen konnten nicht weiter vertieft werden. Lotter, der von einer "ökonomisch illiteraten" Öffentlichkeit sprach, forderte etwa mehr Bildung in Fragen der Ökonomie – wobei in der Diskussion offen blieb, wie er sich diese Alphabetisierungskampagne vorstellt und wie angesichts der widerstreitenden Expertenmeinung ein Lehrplan aussehen könnte. Das Resümee, das Moderator Stephan Lohr an diesem Abend zog, gilt für nahezu alle Debatten: "Wir enden ratlos, aber wir haben viel gelernt." Das Herrenhäuser Gespräch wurde am 30. März 2014 auf NDR Kultur gesendet. Karl-Ludwig Baader