Demonstrierende Menschen mit Fahnen und Plakaten
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"Wir geben dir auf die Fresse!" – Protestforschung in Ostdeutschland

Am 1. September wählen Sachsen und Thüringen neue Landtage. Dass die extreme Rechte Stimmengewinne verbuchen wird, gilt als ausgemacht. Vor allem in den Kleinstädten und Dörfern. Warum das so ist, erforscht ein Projekt im Profilbereich "Gesellschaftliche Transformationen".

Mit Bangen erwartet die Republik die Ergebnisse der Landtagswahlen im September in drei ostdeutschen Ländern: erst Sachsen und Thüringen, danach Brandenburg. Dabei dürften die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht das größte Plus an Stimmen verzeichnen. Musste es so weit kommen? War der Aufstieg der politischen Extremisten wirklich unaufhaltsam? Und wie soll man nach den Wahlen mit dem Rechtsextremismus umgehen?

Für Alexander Leistner vom Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig ist der Triumph der Rechten der kaum überraschende Höhepunkt in einer langjährigen Entwicklung. Seit 2015 forscht er zu Straßenprotesten im Osten Deutschlands. In einem Essay schildert Leistner, wie aus seiner Sicht die Radikalisierung der Demonstrant:innen über die Jahre zugenommen hat. Und politische Extremisten die Proteste instrumentalisieren und in ihrem Sinne befeuern.

Teilweise nehmen mehr als zehn Prozent der Einwohner [von Kleinstädten oder Dörfern] an den Demonstrationen teil.

Alexander Leistner

Rückblende: Ihren Anfang nahm die demokratiefeindliche Bewegung in Ostdeutschland 2015 mit LEGIDA ("Leipziger Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes"). In den wöchentlichen Aufzügen berief man sich auf die friedliche Revolution von 1989. Sie ist bis heute die große Widerstandserzählung, das "ostdeutsche Sonderbewusstsein" (Leistner), der Kitt zwischen disparaten Protestgruppen. Die kollektive Erfahrung von 1989, der Sturz der DDR, gibt vielen die Zuversicht, auch das demokratische System ließe sich mit Straßenprotesten beseitigen.

Begleitet wird die Entwicklung auf der Straße von einer Radikalisierung und Gewaltbereitschaft, die von Jahr zu Jahr zunimmt. So stürmten im August 2020 militante Demonstrant:innen den Reichstag in Berlin. Und im November desselben Jahres fand eine Großdemonstration mit zehntausenden Teilnehmenden in Leipzig statt – allen coronabedingten Distanzregelungen ignorierend: "Angela, dein 1989 ist da".

Dabei sind aus Sicht von Alexander Leistner Großstädte wie Leipzig und Dresden gar nicht die Hot Spots der demokratiefeindlichen Proteste. Chemnitz, Schneeberg, Zwönitz – es sind die Kleinstädte und Dörfer, die sich zu Hochburgen rechtsextremistischen Denkens entwickelt haben. Leistner: "Teilweise nehmen mehr als zehn Prozent der Einwohner an den Demonstrationen teil. Überträgt man diesen Anteil auf Großstädte, dann wären dies Demonstrationen mit regelmäßig hunderttausenden Demonstrierenden. Doch weder die Berichterstattung noch die Forschung fragen, wie sich die Stärke des Protestmilieus auf das lokale soziopolitische Klima auswirkt."

Diese Leerstelle will Leistner mit seinem Projekt "Ways across the Country. Democracy in Transforming Landscapes" füllen. Mit seinem Antrag war er bei einem experimentellen Förderangebot der VolkswagenStiftung erfolgreich. Unter dem Dach der Initiative "Transformationswissen über Demokratien im Wandel" werden in einer eigenen Förderlinie transdisziplinäre "Taskforces" von der Stiftung unterstützt. Die Idee dahinter: Wissenschaftler:innen aus den Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sollen mit Partner:innen aus der Zivilgesellschaft eine gemeinsam entwickelte Fragestellung zu akuten Herausforderungen der Demokratie bearbeiten – und binnen eines Jahres einen Befund vorlegen. 

Collage mit zwei Frauen

Förderangebot Task Forces: Hochdruckforschung für die Demokratie

Demokratien sind weltweit bedroht. Was kann die Wissenschaft zu ihrer Resilienz beitragen? Antworten sollen Forschende und außerwissenschaftliche Akteur:innen in "Task Forces" erarbeiten, die ein Jahr lang gefördert werden. Adelheid Wessler und Cora Schaffert-Ziegenbalg stellen das Angebot vor.

Zum Interview

Leistner kann mit seinem Fokus auf das lokale soziopolitische Klima auf langjährige Vorarbeit zurückgreifen. Ergänzt wird die wissenschaftliche Arbeit durch die aktuelle Perspektive von drei freischaffenden Autor:innen: Sie sind seit Wochen in ostdeutschen Kleinstädten und Dörfern unterwegs, suchen das Gespräch mit den Menschen, lernen so ihre Alltagssorgen und Zukunftswünsche kennen. Das Medieninteresse ist groß. Die "Tageszeitung" (taz) veröffentlicht bis zu den Wahlen jede Woche einen Bericht in der eigens geschaffenen Rubrik "Die Überlandschreiberinnen". 

Bei ihren Begegnungen versuchen die Autor:innen Parteipolitik außen vor zu lassen.  Harte Konfrontationen sollen vermieden werden. Das gelingt nicht immer. Leistner erinnert sich an eine kleinstädtische Demo, wo er und sein Team von der Bühne als "Schmierfinken und Stasi-Spitzel" von der Uni Leipzig bezeichnet wurden. Buhrufe folgten, die Spannung wuchs – doch die Forschenden blieben unbehelligt. Anders als in Leipzig, wo ein Demonstrant auf Leistner zuging und ihm drohte: "Hier sind hundert Leute, die richtig Bock haben, dir auf die Fresse zu geben."

Im Essay von Leistner heißt es: "Der selbsternannte Straßensouverän sitzt unter Bezug auf als geteilt angenommene Ordnungsvorstellungen zu Gericht. Man erhebt Anklage, erteilt Schuld- und Freisprüche und droht explizit mit Sanktionen" – erst gegen Angela Merkel, später Virolog:innen, inzwischen gegen alle, die sich in Stadtparlamenten und im Ehrenamt für die Verteidigung der Demokratie engagieren. Auf Wahlplakaten der rechtsextremen Freien Sachsen liest man: "Handschellen müssen klicken".

Egal wie die Landtagswahlen am Ende ausgehen – schon jetzt benötigen nach Leistners Einschätzung und jener der drei "Überlandschreiberinnen" im ländlichen und kleinstädtischen Raum Vereine, Netzwerke und Ehrenamtliche Unterstützung, "die eine demokratische Kultur in die Breite tragen" (Leistner). 

Der Befund, den dieses "Task Force"-Projekt erstellen wird, scheint jetzt schon eindeutig. Worauf man aber gespannt bleiben darf: Welche Schlüsse und Handlungsempfehlungen das Team aus der wissenschaftlichen und der alltagsorientierten Perspektive synthetisieren wird. Dass es keine kurzfristigen Lösungen geben wird, ist vorhersehbar. Ziel ist es aber, das mediale Interesse für das Aufzeigen von Handlungsbedarfen zu nutzen und für Kipppunkte politischer Kultur zu sensibilisieren. Leistner: "Die Wege auf die Straße sind für die Akteure der extremen Rechten und ihre Unterstützer:innen in vielen Regionen Ostdeutschlands kurz und die eigenen Dominanzansprüche und -erfahrungen längst verinnerlicht."