Wo enden unsere Körper? Wo beginnt die Technik? Forum über den Menschen als Cyborg
Bei Prothesen sind die Grenzen zwischen ersetzen, ergänzen und verbessern fließend – nicht erst, seitdem sie steuerbar und empfindsam sind. Veranstaltungsbericht zu Herrenhäuser Forum am 5. April 2017, veranstaltet von der VolkswagenStiftung in Kooperation mit Spektrum der Wissenschaft
Grenzen und Verbesserungen
Zu Beginn seiner Einführung begrüßt Steven Ayan "alle anwesenden Cyborgs". Als Redakteur der Zeitschrift Gehirn und Geist aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft moderiert er das Herrenhäuser Forum "Schöner Leben als Cyborg? Über den technisch veränderten Menschen" und legt den Begriff des Cyborg zunächst sehr weit aus: "Dabei geht es um jeden technisch veränderten Menschen", erklärt er, und zählt als Beispiele den Einsatz von künstlichen Gelenken, Herzschrittmachern und Hörhilfen auf. Selbst die "gute alte Brille" könnte bereits zu dieser Art von Technik zählen. Spätestens die Überlegung, ob uns bereits Smartphone und Auto als prägende technische Optimierungen unseres Lebens zu Cyborgs machen, erläutert Ayan, führe zu zwei wesentlichen Fragen: "Wo beginnt der Cyborg?" und "Was bedeutet Optimierung?"
Alltag und Science-Fiction
Die Frage nach der Verbesserung des menschlichen Körpers und seinen alltäglichen Möglichkeiten, berichtet Steve Ayan, sei längst Teil der ethischen Diskussion, ob alle technischen Möglichkeiten genutzt und vorangetrieben werden sollen. "Bereits heute setzt die Forschung Visionen von gestern um", führt Ayan aus. Als Beispiele nennt er Retinaimplantate zur Steigerung der Sehleistung, bionische Prothesen für Arme und Beine, die sich per Gedankenkraft steuern lassen, Augmented-reality-Brillen, die die Wahrnehmung durch virtuelle Inhalte anreichern, und Biochips, die die Hirnleistung verbessern sollen. "Wir müssen aber versuchen, ein realistisches Bild zu erhalten", plädiert er. "Was wird bereits umgesetzt, was könnte möglich werden – und was wird Science-Fiction bleiben?"
Entfremdung und Erkenntnis
Er wolle mit einem kulturhistorischen Überblick zunächst eine gemeinsame Verständigungsbasis schaffen, kündigt Prof. Dr. Cornelius Borck vor seinem Impulsvortrag an. Er ist Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Universität Lüneburg, und ist überzeugt: "Die Prothese ist nicht nur Therapie oder Ersatz für Opfer von Krankheiten oder Unfällen." Sie sei vielmehr eine Schlüsselfigur für Fragen nach Menschenbild, Perspektiven auf die Welt und den gesellschaftlichen Umgang miteinander.
Nach den beiden Weltkriegen seien Prothesen zum Sinnbild geworden für "eine körperliche und soziale Wiederherstellung", so Borck. Einerseits haben sie den Menschen an die maschinisierte Arbeitswelt angeschlossen und so zu dessen Entfremdung beigetragen. Andererseits habe ein Nachbau menschlicher Funktionen als Teil einer Aufklärung immer auch die Aussicht auf Erkennen und Verstehen geborgen.
Polarisierung und Verflechtung
Prof. Dr. Cornelius Borck ist sich sicher: "Die polarisierende Gegenüberstellung einer guten Medizin, die dem Menschen Ersatz für Verlorenes bietet, und einer ethisch bedenklichen Optimierung von Körpern muss aufgelöst werden." Vielmehr seien beide Kategorien untrennbar verflochten, da technische Lösungen immer auch nach den Grundlagen von Funktionen fragten und diese funktional abstrahierten. Der Nachbau eines Sprunggelenks knickt niemals weg und Retina-Prothesen sind auf den Infrarotbereich angewiesen. "Die Verbesserung ist Teil der Ersatzlösung," erläutert Borck, "da entstehen dann zwangsläufig Cyborgs mit integrierten Nachtsichtgeräten."
Eingliederung und Normalisierungszwang
Prothesen ermöglichten Menschen mit Behinderung einerseits größere gesellschaftliche Anerkennung und erleichterten ihren Alltag, weist Prof. Dr. Cornelius Borck auf ein weiteres Dilemma hin – hinter ihnen stehe schlimmstenfalls aber auch ein Normalisierungszwang. "Es darf nicht darum gehen, eine Behinderung für die Umgebung unsichtbar zu machen", ist Borck überzeugt. Er fordert ausreichend Raum zur Anerkennung abweichender Lebensformen innerhalb der Gesellschaft. Zwar sei es inzwischen nicht mehr stigmatisiert, seine Verletzungen zu zeigen – der US-Soldat Bryan Anderson war beispielsweise als Dreifach-Amputierter auf dem Titelbild des Magazins Esquire. "Aber eine solche Heroisierung hat eben keinerlei Alltagsdimension", gibt Borck zu bedenken.
Bewegungsmodi und Programmierung
Einen Einblick in praktische Lösungsansätze hat sich Prof. Dr. Hubert Egger für seinen Impulsvortrag vorgenommen. Er lehrt an der Fachhochschule Oberösterreich in Linz im Studiengang Medizintechnik und ist Experte für bionische Prothetik. Zudem forscht er auch in einer angeschlossenen Klinik für plastische und rekonstruktive Chirurgie. "Mensch und Prothese müssen über das Nervensystem miteinander verbunden werden", erklärt er. Die High-Tech-Prothesen, die er entwickle, ermöglichten eine aktive Fortbewegung, ihre Hydrauliksysteme setzten elektronisch steuerbar Beschleunigung und Bremsen um. Der Anwender kann über eine Fernbedienung verschiedene Bewegungsmodi programmieren. "Das ist der Stand der Technik," ergänzt Egger, "das ist bereits kommerziell erhältlich."
Muskeln und Haut
Prof. Dr. Hubert Egger stellt außerdem seine Forschung an aktiven Prothesen vor, die myoelektrisch steuerbar sind, also über elektrische Signale aus den Muskeln: "Solche künstlichen Gliedmaßen sollen sich verhalten wie natürliche, der Nutzer soll sie nicht bewusst, sondern intuitiv steuern." Der Ursprung einer Bewegung liegt im Gehirn, wo Empfindungen der Gliedmaßen verarbeitet und Impulse zurückgesendet werden. Motorische und sensorische Reize werden als elektrochemische Prozesse durch gemischte Nerven geleitet und enden normalerweise in der Gliedmaße. "Wenn eine Gliedmaße fehlt, bilden sich am Ende der Nervenbahnen Knoten, sogenannte Neurome", führt Egger aus. Dort ist es chirurgisch möglich, Nervenenden neu zu verschalten – motorische Nervenenden mit Muskeln und sensorische mit der Haut. So entsteht am Stumpf eine neue Schnittstelle für die Informationsaufnahme. "Der Patient empfindet zum Beispiel statt seiner Phantomschmerzen seinen Fuß in einem Areal des Stumpfes", erläutert Prof. Dr. Hubert Egger. So lässt sich der Informationsfluss wiederherstellten – Sensoren auf der künstlichen Fußsohle sind über die ursprünglichen Nervenbahnen mit dem Gehirn verbunden. Durch das Spüren des Fußes auf dem Boden lasse sich eine deutlich höhere Gangsicherheit erreichen, so Egger. Entsprechend lassen sich bei einer intuitiv durch Gedanken gesteuerten Armprothese motorische Nervenbahnen mit dem Brustmuskel verbinden, Sensoren in der künstlichen Hand melden Temperatur, Druck und Vibrationen zurück ans Gehirn. Egger betont trotz solcher Erfolge: "Wir sind bei der Forschung an bionischer Prothetik noch ganz am Anfang."
Alle und keiner
Zu Beginn der Podiumsdiskussion bittet Steve Ayan Prof. Dr. Walther Zimmerli um die Klärung seiner Perspektive auf den Begriff Cyborg. Zimmerli ist Honorarprofessor für Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin. Kybernetes bedeute im Griechischen Steuermann, erläutert Zimmerli, die Kybernetik sei entsprechend die Lehre vom Steuern. Somit sei ein Cyborg im Grunde ein Steuerorganismus. "Das heißt, wir sind alle auch ohne Technik Cyborgs, denn wir sind ja selbststeuernde Organismen", sagt Zimmerli. Im engeren Sinne begreife er einen Cyborg jedoch als "intelligente, informationsverarbeitende Maschine auf organischer Basis". Zimmerli kommentiert trocken: "Das gibt es noch gar nicht." Die bisherigen bionischen Prothesen könne man schließlich nicht als künstliche Intelligenz bezeichnen.
Menschenbild und Paradigmenwechsel
Prof. Dr. Stefan Lorenz Sorgner sieht den Cyborg als Metapher des Post- bzw. Transhumanismus. Er lehrt Praktische Philosophie an der John Cabot University in Rom und stellt die These auf: "Wir sind alle schon immer Cyborgs gewesen." Schließlich habe der Mensch schon immer auf Techniken zurückgegriffen, um sein Leben angenehmer zu machen. Auch Sprache, Schreiben oder Erziehung seien solche Techniken. "Mit unseren heutigen Techniken sind wir jedoch in der Lage, mehr zu erreichen", glaubt Sorgner. Und ergänzt: "Vielleicht können wir sogar erstmals aktiv in die Evolution eingreifen, um unser Leben zu verbessern." Er plädiert für einen Paradigmenwechsel, der den Cyborg nicht mehr als hybrid sondern Prothesen als Teil des Menschen begreift – dazu zählten auch technische Hilfsmittel wie ein Smartphone.
Ästhetik und Würde
Auch Prof. Andreas Mühlenberend ist überzeugt: "Der Mensch neigt dazu, Dinge zum Teil seines Menschseins und seiner erweiterten Empfindungen zu machen." Mühlenberend lehrt Industriedesign an der Bauhaus Universität Weimar und gilt als preisgekrönter Pionier für die Gestaltung von Prothesen. Im Begriff Cyborg findet er seine Arbeit allerdings nicht wieder: "Das klingt nach Robotern, nicht nach Ästhetik." Er begegne dem menschlichen Körper mit Designlösungen, die seine grundsätzliche Schönheit respektierten. Technoide Darstellungen empfindet Mühlenberend als lieblos. Er glaubt: "Indem ich die Begegnung von Mensch und Produkt moderiere, verleihe ich beiden Würde.
Von einem unmittelbaren Nachahmen des Körpers in Prothesen hält er nichts: "Man kann riskieren, anders auszusehen." Gutes Design unterstütze beim nötigen Selbstbewusstsein, um sagen zu können: "Ich sehe zwar anders aus, aber ich halte das aus – und ihr auch."
Pragmatik und Individualität
Die Diskussion wird vor allem von ethischen und pragmatischen Fragen danach bestimmt, wie weit der Umgang mit neuartigen oder zukünftigen Prothesen gehen kann und soll – und was in diesem Zusammenhang "besser" bedeuten könnte. Prof. Dr. Hubert Egger sieht heute bereits Möglichkeiten, die Fähigkeiten von Prothesen gegenüber den natürlichen Gliedmaßen zu steigern – seine Motivation sei jedoch eindeutig die, den Menschen etwas Verlorenes zurückzugeben: "Ein Mensch, der seine Beine verliert, braucht Ersatz – einer, der ohne Beine geboren wurde, hat aber vielleicht individuelle Fähigkeiten erworben, die das mehr als ausgleichen." Auch Prof. Dr. Stefan Lorenz Sorgner glaubt: "Jeder hat eine eigene Vorstellung von einem erfüllten Leben." Er plädiert jedoch dafür, technische Gestaltungsmöglichkeiten für Individualität und Vielfalt zu nutzen, Körper nach Bedarf auch spielerisch zu erweitern. Geltende Regeln würde er daraufhin prüfen, ob sie dafür angemessen erscheinen.