Würde und Wertschätzung bis zuletzt
Wohin entwickelt sich die Betreuung Schwerstkranker und Sterbender? Wie lassen sich die wesentlichen Herausforderungen bewältigen? Veranstaltungsbericht zur 5. Leopoldina Lecture von VolkswagenStiftung und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina am 18. Mai 2015.
Interdisziplinäres Aufgabenfeld
"Es geht um die Lebensqualität von Patienten, die von lebensbedrohlichen, nicht heilbaren Krankheiten betroffen sind", fasste Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, in seinem Grußwort zur Leopoldina Lecture "Begleitung am Ende des Lebens. Wie gut ist die Palliativversorgung in Deutschland?" das Thema Palliativversorgung zusammen. Und stellt dabei sogleich einen wesentlichen Aspekt in den Mittelpunkt: "Das umfasst sämtliche Aktivitäten, die diesen Menschen gelten." So klar das Ziel auch sei, Leid und Schmerzen zu lindern, so vielschichtig seien die damit verknüpften Prozesse im gesamten Umfeld der Patienten. Die Herausforderungen beträfen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen und seien nur durch entsprechende Rahmenbedingungen und Engagement zu bewältigen. Prof. Dr. Jörg Hacker, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, brachte anschließend die Ziele einer Palliativversorgung in einem Zitat von Cicely Saunders auf den Punkt, die im Jahr 1967 in London das erste Hospiz gründete: "Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben."
Aufgabe für die Forschung
Hacker führte als Mitveranstalter aus der Perspektive der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in das Thema ein. Die Leopoldina Lectures in Herrenhausen nehmen immer wieder Schwerpunkte der wissenschaftsbasierten Politikberatung der Akademie auf. Im Februar dieses Jahres hat diese eine Stellungnahme zur Palliativversorgung veröffentlicht, die in einen Gesetzesentwurf des Bundeskabinetts vom 29. April eingeflossen ist. Darin geht es um wichtige Reformen bei Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Krankenhauswesen. Hacker begrüßte, dass der Themenkreis um Sterben und Tod in den vergangenen Jahren an öffentlicher Bedeutung gewann: "Palliativversorgung benötigt das öffentliche und interdisziplinäre Gespräch." Die deutschen Defizite können und müssen seiner Meinung nach vor allem auch durch Forschung behoben werden. Deshalb fordert die Akademie in ihrem Gutachten, neben einer flächendeckend hohen Betreuungsqualität und verpflichtenden lückenlosen Finanzierung, eine Versorgung, die auf wissenschaftlichen Grundlagen basiert.
Patient Mustermann wirft Fragen auf
Um die nachfolgenden Expertenstatements zu illustrieren, stellte Prof. Dr. Hans-Peter Zenner, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Universität Tübingen, ein Fallbeispiel aus seiner Sprechstunde vor: Der 45-jährige Patient hatte große Probleme beim Sprechen, Schlucken und Atmen, klagte über Kopfschmerzen, Erschöpfung und starken Gewichtsverlust. Die Diagnose Kehlkopf-/Rachenkarzinom mit Metastasen im Gehirn diskutierte Zenner in der Tumorkonferenz seiner Klinik. Mit dem Ergebnis: Heilen sei unmöglich, helfen hingegen schon. Für die Begleitung, die es in der Palliativmedizin für den Erkrankten bis zu dessen Tod innerhalb der folgenden drei Jahre zu erarbeiten galt, stellte Zenner eine Reihe Fragen an die anderen Podiumsgäste. Wie am besten umzugehen sei mit Schmerzen, Atemnot und dem soziale Probleme verursachenden starken Geruch des Kranken? Mit dessen chronischer Erschöpfung, der sogenannten Fatigue ("eines der häufigsten und zugleich am häufigsten übersehenen Probleme bei Krebserkrankungen")? Aber eben auch: "Wie sprechen wir über die Möglichkeit des Todes, wie gehen wir mit Ängsten um?" Und wesentlich: "Wie funktioniert eine ambulante Versorgung zuhause"?
Umgang mit körperlichen Symptomen
Die Schmerztherapie sei heutzutage noch das geringste Problem, stellte Prof. Dr. Lukas Radbruch fest, Direktor der Klinik für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Bonn und ärztlicher Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. "Der Schrank ist voll mit guten Medikamenten." Allerdings müssten deren Wirkungen und Nebenwirkungen gut kommuniziert werden, um dem Patienten die Angst zu nehmen. Die richtige Dosis müsse gefunden und kontrolliert werden. Außerdem gelte es, über begleitende Strategien nachzudenken: Schwellungen können zum Beispiel durch Cortison verringert werden. "Auch eine Strahlentherapie kann manchmal sinnvoll sein, um durch das Reduzieren von Tumorzellen Schmerzen zu lindern", ergänzt Radbruch. Die Atemnot sowie die Schmerzen mit Morphinen zu behandeln, sei ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Erfahrungswerten und neuen Erkenntnissen. In der Ausbildung lerne ein Arzt, das Medikament verursache Atemnot, in der Praxis erleichtere es aber die Atmung. Bei der Fatigue sieht Radbruch einen großen Forschungsbedarf. Zwar habe man inzwischen ein Bündel von möglichen Maßnahmen ausgemacht. Aber: "Wir müssen in Studien ein für jeden Kollegen nutzbares Programm entwickeln."
Der soziale Faktor
"Trotz guter Betreuung werden die Ängste des Patienten nicht verschwinden", erklärte Martina Kern, die Leiterin des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. "Hören und Realisieren sind nicht identisch," führte sie aus, "der Weg des Begreifens und Akzeptierens braucht Zeit." Sie plädierte für Wahrhaftigkeit beim Umgang mit dem Kranken, gerade auch in schwierigen oder unangenehmen Situationen. Früher sei es für eine Krankenschwester verboten gewesen, sich zu ekeln – oder eben darüber zu sprechen, wenn sie es doch tut. "Ich finde es jedoch unangemessen, zu sagen: Das macht mir nichts aus", bezog Kern Stellung. Der Patient wolle auch in seinem Leid gesehen werden. Und eine ehrlich gezeigte Wertschätzung trotz der Erschütterung über das Erlebte sei in der Pflege viel wert. Dem Umfeld zu helfen, über solche Dinge reden zu können, könne auch dessen Schuldgefühle abbauen. Kern betonte: "Wir müssen immer die Angehörigen im Blick haben – sie organisieren und tragen die Situation zuhause."
Die Rolle des Hausarztes
Kommunikation und Wahrhaftigkeit seien auch zentrale Aufgaben für Hausärzte, nicht nur in der Palliativversorgung. Das betonte Prof. Dr. Nils Schneider, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Nach einer Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus laufe beim Hausarzt alles zusammen, er erhalte als einziger den Bericht und sei der erste Ansprechpartner für alles Weitere. "Auch wenn die Lebenswirklichkeit zuhause viel auffangen kann – der Gegensatz zum organisierten, sicherheitsgebenden System Krankenhaus ist groß", erklärte Schneider. Mit dem Kümmern um Medizin, Pflege, Hauswirtschaft und Bürokratie gleichzeitig seien Patienten und Angehörige oft überfordert. Der Hausarzt sei da in einer Vertrauensposition, so Schneider: "Er kennt den Patienten und dessen soziales Gefüge bereits." Das fortlaufende Gespräch mit dem Hausarzt sei wesentlich für das Erstellen eines präzisen Therapieplans. Denn viele Symptome könne dieser auch selbst behandeln. Es sei allerdings wichtig, dass er seine Möglichkeiten und Grenzen kenne.
Kritik und Optimismus
In der Diskussion auf dem Podium und auch mit dem Publikum betonten die Experten mehrfach die Notwendigkeit weiterer Entwicklungen, gerade auch in der Forschung. Es fehle an Veröffentlichungen zu Medikamenten und Nebenwirkungen, besonders im Vergleich miteinander, beklagte Prof. Dr. Radbruch. Ohne weitere unabhängige Forschungsgelder sei dies nicht zu finanzieren. Auch die Rolle von Pflegepersonal in der Palliativversorgung dürfe nicht nur auf Intuition basieren, merkte Martina Kern an. Die Möglichkeiten, Angehörige strukturell zu unterstützen, müssten weiter erforscht werden. "Davon abgesehen müssen aber auch Krankenhäuser wieder zu Orten werden, an denen gestorben werden kann", ergänzte sie. Auch in der Altenpflege müssten mehr Geld und Strukturen für professionelle Palliativpflege zur Verfügung stehen. Obwohl es noch an einer optimalen, flächendeckenden Versorgung mangele, sei die Versorgung jedoch auf einem guten Weg, bescheinigte Prof. Dr. Schneider abschließend: "Immer mehr Hausärzte und Spezialisten entscheiden sich für Zusatzqualifikationen – und in das Studium ist das Modul inzwischen verpflichtend integriert."
Thomas Kaestle