Braucht die Alzheimer-Forschung einen Kurswechsel?
Bis heute gibt es keine Heilung für Alzheimer. Auch, weil die Forschung seit 30 Jahren einer einzigen Spur folgt und andere dabei nicht beachtet. Meint der Biochemiker Christian Behl, der am 9. Juni 2023 in Hannover im Gespräch mit Catherine Newmark seine Kritik an der Alzheimer-Forschung erläutern wird.
Hat die Alzheimer-Forschung jahrzehntelang auf das falsche Pferd gesetzt? Der Biochemiker Christian Behl, Professor an der Universitätsmedizin Mainz, übt Kritik an der "Amyloid-Hypothese". Sie habe bis heute keine signifikanten therapeutischen Durchbrüche erzielt, durch ihre jahrzehntelange Dominanz aber die Erforschung anderer vielversprechender Ansätze verhindert.
Worauf beruht die "Amyloid-Hypothese"? Sie geht von der Annahme aus, dass die Ablagerung von Beta-Amyloid-Protein eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Alzheimer-Krankheit spielt. Deshalb sucht die medizinische Forschung bis heute nach einem Weg, Amyloid-Ablagerungen durch die Mobilisierung vorhandener Abwehrzellen aus dem Gehirn zu entfernen. Das Schlagwort "Alzheimer-Impfung" rückte schon vor langer Zeit in den Mittelpunkt von Forschungsprogrammen in einer zuvor unbekannten Größenordnung. Ein durchschlagender Erfolg aber ist bis heute ausgeblieben: "Aktive" Immunisierungsstrategien, bei denen das Immunsystem selbst Abwehrwaffen (Antikörper) gegen Beta-Amyloid erzeugt, verursachen zu viele Nebenwirkungen. "Passive" Strategien, die synthetisch hergestellte Antikörper verwenden, zeigen eine enttäuschend geringe klinische Wirksamkeit.
Nun hat Christian Behl mit einer Förderung der VolkswagenStiftung ein Buch geschrieben, in dem er die Entwicklung der Alzheimer Forschung, die verschiedenen Erklärmodelle und seine Kritik an der jahrzehntelangen Fixierung auf die Amyloid-Hypothese ausführlich darlegt; er informiert dabei über die vernachlässigten Alternativen. Am 9. Juni 2023 ist er zu Gast im Schloss Herrenhausen in Hannover. Dort wird er mit der Moderatorin Catherine Newmark das Themenfeld Alzheimer-Forschung diskutieren. Die Veranstaltung richtet sich an ein breites Publikum.
Vier Fragen an Christian Behl
Herr Behl, jüngst haben die Medien wieder einmal begeistert über neue Medikamente gegen Alzheimer berichtet. Teilen Sie die Euphorie? Steht der Sieg der Forschung über Alzheimer bevor?
Die Euphorie teilen in Fachkreisen nur wenige. Die Presseinformation des Pharmakonzerns Eli Lilly und die bisherigen Daten zu dem Medikament Leqembi von Biogen und Eisai bieten auch wenig Anlass für Euphorie. Weder sind die berichteten klinischen Effekte in irgendeiner Art und Weise überzeugend, noch sind die erheblichen Nebenwirkungen zu missachten. Die errechneten Werte für die Verlangsamung des kognitiven Abfalls nach Einnahme von Leqembi sehen viele klinische Kolleg:innen in einer Größenordnung, die am einzelnen Patienten kaum beobachtbar sein dürfte. Viele Antikörpertherapien, die schon früher ähnlich effizient wie Leqembi das Amyloid aus dem Gehirn entfernt haben, hatten keinerlei errechenbare positive Effekte; das wird gegenwärtig wieder einmal vergessen. Zusammenfassend: Die neuen und in den Medien teilweise sehr optimistisch dargestellten Daten bedeuten weder einen Durchbruch auf der Suche nach einer Therapie noch eine mögliche Heilung.
Welche anderen Chancen hat sich die Forschung verbaut, indem sie 30 Jahre lang der "Amyloid-Hypothese" gefolgt ist?
In meinem Buch habe ich eine ganze Reihe von alternativen Erklärungsmodellen ausgeführt und zusätzlich ein eigenes Modell zur Entstehung und Entwicklung der Alzheimer Krankheit entwickelt. Vor allem in den 1990er Jahren gab es eine Reihe von neuen Erkenntnissen, die völlig unabhängig von der damals eingeführten Amyloid-Kaskaden-Hypothese waren. Sie wurden aber von dem damals gerade aufkommende Hype auf die Biochemie des Proteins Amyloid überdeckt.
Welche Akteure müssen sich wie bewegen, um die von Ihnen geforderte Befreiung aus der "Amyloid-Zwangsjacke" zu bewerkstelligen?
Wissenschaft muss grundsätzlich ergebnisoffen, objektiv und streitbar sein. Um diesen Anspruch zu erfüllen, müssen alle Forschenden im Feld ihre verfügbaren Daten offenlegen und bereit sein, diese auch kritisch zu diskutieren. Was wir bisher häufig beobachten konnten, ist ein "confirmation bias": Forschungsergebnisse werden zum Teil so ausgewertet und interpretiert, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen und die dominierende Hypothese stützen.
Mit welchen Botschaften sollen die Zuhörer:innen am Ende der Diskussion am 9. Juni im Schloss Herrenhausen in Hannover nach Hause gehen?
Was ich den Zuhörer:innen vermitteln möchte: Die Alzheimer Krankheit ist eine multifaktorielle und von vielen genetischen Risikofaktoren, auch Erfahrungen im Alter, beeinflusste Erkrankung des Gehirns. Das Amyloid-Protein kann unter bestimmten Umständen und beim Vorliegen spezieller Risiken eine Rolle spielen. Bei vielen älteren Menschen und sicher auch bei Alzheimer-Patienten ist das Amyloid ein begleitendes Produkt, das eventuell zusätzlich schaden kann - aber nicht muss. Das Amyloid-Protein ist aber meiner Meinung nach nicht die initiale Ursache dieser komplexen Hirnerkrankung. In diesem Punkt bin ich anderer Meinung als die meisten Fachkolleg:innen. Genauer müsste man auch von verschiedenen Alzheimer Krankheiten sprechen, nicht nur von der einen, durch die Ablagerung des Amyloid gekennzeichneten. Die Ablagerung des Amyloid im Gehirn ist meiner Meinung nach bei vielen ein Charakteristikum der Hirnalterung und nicht primär negativ.
Das von der VolkswagenStiftung geförderte Buch von Christian Behl ist im Juli 2023 in englischer Sprache im Verlag Springer Nature erschienen: "Alzheimer’s Disease Research: What Has Guided Research So Far and Why It Is High Time for a Paradigm Shift.”