Das Coronavirus legt die Kräfteverhältnisse in der Medizin offen
Freigeist-Fellow Dr. Tine Hanrieder berichtet, wie sich die Pandemie auf ihre Forschung auswirkt – und was sie sich für die Personen an der Front der globalen Gesundheitspolitik wünscht.
Tine Hanrieder leitet die Forschungsgruppe "Globale humanitäre Medizin" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die Expertenhierarchien im Feld der globalen Gesundheit erforscht. Ihr Projekt "Medical Internationalisms and the Making of Global Public Health (Dr.GLOBAL)" wird durch ein Freigeist-Fellowship der VolkswagenStiftung finanziert: Es untersucht die Internationalisierung medizinischer Professionen in Frankreich, Kuba und den USA und fokussiert darauf, wie Versorgungsmodelle aus dem globalen Süden von Berufsgruppen im globalen Norden genutzt und reinterpretiert werden.
Frau Hanrieder, wie stark wirkt sich die Coronavirus-Pandemie auf Ihre Forschung aus?
Jetzt wäre ich eigentlich gerade in den USA im Archiv und auf Konferenzen. Diese Art der Forschungsarbeit ist seit zwei Monaten nicht durchführbar. Stattdessen gibt es derzeit viele Webinare und Online-Foren und -meetings, in denen die verschiedenen Fachcommunities und Berufsgruppen zusammenkommen.
Positiv formuliert, interessiert das Thema "Globale Gesundheitspolitik" plötzlich alle - aber dieses Zeitfenster wird sich auch wieder schließen.
Beschert die Corona-Krise auch positiven Input oder neue Forschungsfragen?
Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit der Frage, wie Versorgungsmodelle aus dem globalen Süden in den Norden transportiert werden, etwa im humanitären Bereich oder durch Modelle mit sogenannten "Community health workers". Dieses Modell wird derzeit sehr prominent beworben – in Entwicklungsländern erfahrene Gesundheitsfachleute machen Vorschläge, eine "Reservearmee" an einfachen Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeitern auszubilden, etwa in Großbritannien oder den USA. Ansonsten ist die Corona-Pandemie ein echter Stresstest für die Gesundheitssysteme weltweit.
Hier wird derzeit neu justiert, wer eigentlich die Agenda bestimmen darf. Die wissenschaftlichen Institutionen? Die politische Ebene? Oder die "Health Worker" selbst, also die Arbeitsebene? Wir sehen immer mehr Protestaktionen und gewerkschaftliches Bewusstsein in Berufsgruppen, die zuvorderst über ihren Altruismus definiert werden, und es daher – Systemrelevanz hin oder her – schwer haben, für ihre Rechte einzustehen. Doch momentan kommen grundlegende Fragen weltweit auf den Tisch: Was hat einen Wert? Wer darf mitreden? Was hilft dem Land? Was hilft sozial benachteiligten Gruppen? Ich beobachte das und bin sehr gespannt, wohin es sich entwickelt.
Wirkt sich die Pandemie auch ganz direkt auf ihr Freigeist-Projekt aus?
Einige Entwicklungen während dieser Krise scheinen bisherige Beobachtungen aus unserem Projekt eher zu bestätigen. Dazu gehört, dass Politik-Importe aus dem globalen Süden auch stark koloniale Züge tragen. In einem Staat der US hat eine international tätige NGO ein großangelegtes Community Health Worker Programm gestartet, um Contact Tracing und breitere soziale Unterstützung in breitem Umfang zu gewährleisten. Diese NGO entwarf ihr Programm zunächst völlig ohne Konsultation mit dem bereits bestehenden Berufsverband für Community Health Worker in diesem US-Staat. Die kosmopolitischen und akademischen Eliten, die derlei Programme aufsetzen, feiern zwar die – meist bestenfalls prekär beschäftigten, meist weiblichen, meist Minderheiten zugehörigen – Community Health Workers, greifen aber auf deren über Jahrzehnte gewachsene Expertise nicht zurück. Die heimischen Leute von der Front müssen um jeden Hauch Anerkennung ringen.
Videointerview: Tine Hanrieder stellt 2018 ihr Freigeist-Forschungsprojekt vor
Könnte die Krise auch Gutes bewirken?
Im Moment geht es erst einmal darum, wie Länder und Gemeinden die Krise einigermaßen sozialverträglich durchstehen können – da gibt es ja dramatische Unterschiede. Aber in die Zukunft gedacht: Das Coronavirus legt einen neuen Fokus auf die Verwundbarkeit und Überlastung der Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeiter an der Front – sie bekommen derzeit viel Aufmerksamkeit, es wird geklatscht, die Gewerkschaften melden sich verstärkt zu Wort. Ich wünsche mir, dass diese Sichtbarkeit sich auch niederschlägt, in besseren Bedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter, gerade in der Primärversorgung. Aber dazu bedarf es einer ausdauernden Mobilisierung für diese Belange, und letztlich tiefgreifender Veränderungen in der Gesundheitswirtschaft.
Gibt es etwas, worauf Sie sich derzeit freuen können?
Ich freue mich auf den Tag, an dem in den USA die Archive wieder öffnen. Dann kann ich Kontakt aufnehmen zu Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die für mich bestimmte Rechercheaufgaben übernehmen können. Mit einem Flug in die USA kann man ja derzeit erst einmal nicht rechnen. Und ich freue mich auf ein persönliches Team Meeting. Nachdem die Pandemie uns erstmal zum Umdisponieren zwang, konnten wir zwar in der ersten Zeit des Lockdowns unsere Publikationen fertig stellen. Aber jetzt werden wir tatsächlich etwas ungeduldig, und würden uns gern auch wieder persönlich treffen. Zoom kann zwar einiges - Kolloquien und Seminare klappen gut- aber gemeinsam vor einem Monitor stehen und sich besprechen, das kann es nicht ersetzen, der direkte Austausch fehlt. Ich rechne damit, dass dieser in den nächsten Wochen wieder langsam möglich werden wird.