"Die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit nimmt weltweit zu"
Seit 2017 fördert die VolkswagenStiftung die "Academy in Exile" – ein buchstäblicher Fluchtpunkt für verfolgte Forscherinnen und Forscher. Interview mit Kader Konuk, Turkistik-Professorin an der Universität Duisburg-Essen und Mitinitiatorin des Projekts.
Frau Konuk, als die "Akademie im Exil" 2017 ins Leben gerufen wurde, gab es eine riesige Nachfrage, die kaum zu bewältigen war. Wie ist es heute?
Ich erhalte wöchentlich immer noch mehrere Anfragen. Das Projekt hat sich in den Wissenschaftskreisen herumgesprochen.
Was war der Auslöser zur Gründung der Akademie?
Das Institut, das ich leite, ist das größte Türkeistudienprogramm außerhalb der Türkei. Ich hatte 2016 Kontakt zu türkischen Wissenschaftlern, die zu den über 1.200 Unterzeichnern der Friedenspetition "Academics for Peace" in der Türkei im Januar 2016 gehören. Diese Petition war unter anderem ein Appell an die türkische Regierung, die gewaltsamen Übergriffe des Militärs gegen kurdische Zivilistinnen und Zivilisten zu stoppen. Auch ich habe den Appell ohne Bedenken unterschrieben. Präsident Erdoğan hat die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner als "Pseudowissenschaftler" und als Unterstützer von Terrorismus bezeichnet. Daraufhin kam es zu Festnahmen und einer generellen Atmosphäre der Einschüchterung. Schon zu diesem Zeitpunkt nahmen vermehrt türkische Kolleginnen und Kollegen Kontakt zu mir auf.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe versucht, Einzelnen zu helfen. Aber die Zahl derjenigen, die sich bei mir meldeten, wuchs wöchentlich. Gemeinsam mit bereits nach Deutschland geflüchteten Wissenschaftlern überlegten wir uns, was zu tun sei. So nahm ich Kontakt zur VolkswagenStiftung auf und stellte die Idee vor, eine ganze Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu unterstützen. Das wurde sehr positiv aufgenommen.
Dann hat sich die Situation in der Türkei weiter zugespitzt…
Ja, im Juli 2016 kam es zu dem gescheiterten Putschversuch, den Erdoğan zur Grundlage nahm, über Staatsdekrete in den folgenden Monaten Berufs- und Reiseverbote für die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Friedenspetition durchzusetzen. Damit begann eine systematische Säuberung an den türkischen Universitäten. Das war genau in der Zeit, als unser Antrag bei der VolkswagenStiftung vorlag und dann auch schnell bewilligt wurde. Im Oktober 2017 wurde die "Akademie im Exil" gegründet.
Was ist das Ziel der Akademie?
Die Akademie schafft ein Forum, das gefährdeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglicht, in einem geschützten Raum ihren Forschungsprojekten weiter nachzugehen. Wir unterstützen vor allem diejenigen, die aufgrund ihres wissenschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Engagements zu Fragen religiöser und ethnischer Vielfalt, Gender und Sexualität, Frieden, Demokratie oder Menschenrechten verfolgt werden oder unter Druck gekommen sind.
Und wie war die Resonanz auf die Gründung?
Sehr gut. Obwohl das Projekt erst nur durch einen kleinen Zirkel von Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Friedenspetition in Umlauf kam, erhielten wir innerhalb von zwei Wochen 120 Bewerbungen auf unsere Ausschreibung. Nach dem Putschversuch war der Bedarf natürlich sehr viel größer als zum Zeitpunkt der Antragstellung bei der Stiftung.
Welche Bewerberinnen und Bewerber haben überhaupt eine Chance, gefördert zu werden?
Antragsberechtigt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit abgeschlossener Promotion, die eine Gefährdung in ihrem Heimatland nachweisen können. Ein multidisziplinäres Kollegium wählt die Fellows aus, die bis zu 24 Monate unterstützt werden.
Sie gehören auch zu dem Kollegium. Wie schwierig ist es, eine Auswahl zu treffen?
Sehr. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die wissenschaftliche Qualifikation im Vordergrund steht. Die Schwierigkeit war dann, wie wir mit dem Risikostatus umgehen. Wir wollten eigentlich nicht, dass Bewerberinnen und Bewerber bis ins letzte Detail darlegen müssen, wie sie verfolgt werden. Wir haben also nicht unterschieden, ob jemand bereits in Haft war oder ein Berufsverbot droht, da die Situation in der Türkei unkalkulierbar ist und nicht vorauszusehen war, wer als nächstes in Haft genommen wird. Wir haben also nicht nach der Härte der Gefährdung beurteilt. Das hat uns natürlich auch Kritik eingebracht und den Vorwurf, wir hätten dringende Fälle nicht ausreichend berücksichtigt. Aber genau für diese Situation haben wir auch Notstipendien anzubieten.
Wie hat sich das Auswahlverfahren auf Sie persönlich ausgewirkt?
In der ersten Runde konnten wir zunächst nur sechs Fellowships an 120 Bewerberinnen und Bewerber ausgeben. Das war eine große seelische Belastung. Es reichte vorne und hinten nicht. Es gab so viele ausgezeichnete Bewerbungen. So hatten wir einen Fall, der mir besonders schlaflose Nächte beschert hat. Ein sehr junger, frisch promovierter Kollege war mit seiner schwangeren Frau aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Noch im Krankenhaus, in dem seine Tochter zur Welt kam, schrieb er seine Bewerbung an die Akademie. Er war leider noch nicht soweit etabliert, dass man sehen konnte, wie vielversprechend seine Arbeit sein würde. Deshalb konnten wir ihm zunächst kein Stipendium geben. Er war aber auf unserer Liste, und als wir über andere Stiftungen zusätzliche Gelder einholen konnten, haben wir ihn zu uns geholt. Schwieriger wurde es dann bei der zweiten Vergaberunde im Mai 2019. Es bewarben sich weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, also nicht mehr nur aus der Türkei. Um hier gerecht entscheiden zu können, haben wir uns die Expertise von Leuten geholt, die die Situation in den jeweiligen Ländern einschätzen konnten.
Aus welchen Ländern sind die Stipendiatinnen und Stipendiaten?
Wir haben Bewerbungen aus Polen, insbesondere nach der Einführung des Holocaustgesetzes. In Ungarn wurden die Gender-Studies-Programme geschlossen. Bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler melden sich auch aus Brasilien, Nigeria, Indien, Indonesien oder Pakistan bei uns.
Wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier in Deutschland sind – was bereitet Ihnen am meisten Probleme? Die Sprache?
Die eher nicht, denn die Wissenschaftssprache ist Englisch. Unsere Fellows ermutigen wir dazu, Deutschkurse zu belegen. Die Fellows leiden eher darunter, dass sie ihr Publikum verloren haben. Ja, sie können forschen und Bücher schreiben. Aber ihnen fehlt die Lehre, der Umgang mit den Studierenden. Deshalb bauen wir derzeit ein Projekt für die digitale Lehre auf.
Welchen Vorteil bringt die Akademie den deutschen Universitäten?
Wir erreichen durch die sehr hoch qualifizierten Stipendiaten eine größere Internationalität an den deutschen Universitäten. Gerade die Türkeistudien werden dadurch unheimlich bereichert. Woran man sich auch erinnern sollte: Nach 1933 verließen sehr viele deutsch-jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter Deutschland und haben in der Türkei die Möglichkeit bekommen, weiterzuarbeiten. Die Fellows zeigen uns immer wieder, wie wichtig die Wissenschaftsfreiheit ist. Die Freiheit von Forschung und Lehre ist auch in Deutschland nicht selbstverständlich. Man muss nur daran denken, in wie vielen Gremien die AfD, die diese Freiheit vielfach infrage stellt, mit am Tisch sitzt. Und wir müssen darauf achten, dass ausländische Regierungen nicht in unsere Wissenschaftsfreiheit eingreifen.
Wie viele Menschen haben bereits ein Stipendium bekommen?
Bislang haben wir 33 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefördert. Wir haben drei verschiedene Fellowships – es gibt neben den 12 und 24 Monaten auch die dreimonatigen Notstipendien.
Wie geht es weiter mit der Akademie?
Die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit nimmt weltweit zu. Deshalb werden wir die Akademie noch viele Jahre brauchen. Wir wollen das Angebot durch Stipendienprogramme und Initiativen weiter ausbauen, beispielsweise durch ein Haus mitten in Berlin, das derzeit renoviert wird. Dazu haben wir in Kooperation mit der Humboldt-Universität das Projekt "Das deutsche Haus – Haus im Exil" gegründet, zu dem auch die "Akademie im Exil" gehört. Damit setzen wir ein sichtbares Zeichen, dass wir die Demokratie und Wissenschaftsfreiheit, die für mich untrennbar sind, in Deutschland fördern. Es ist nicht nur wichtig, dass man individuell Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hilft. Man muss auch schauen, welches Wissen den Ländern entzogen wird und welchen Beitrag wir dazu leisten können, dieses Wissen weiterzuentwickeln.