Interview

Eine Kunst für sich — Chancen und Risiken transdisziplinärer Forschung

#Transdisziplinarität

Interview: Christine Prussky

zwei Frauen vor einer rosafarbenen Wand

Mobilitätsforscherin Sophia Becker (links) und Henrike Hartmann, stellvertretende Generalsekretärin und Leiterin der Abteilung Förderung der VolkswagenStiftung

Ist es eine gute Idee, wenn Forschende mit Stakeholdern aus anderen Bereichen der Gesellschaft zusammenarbeiten? Ein Gespräch über transdisziplinäre Forschung zwischen der Berliner Mobilitätsforscherin Sophia Becker und Henrike Hartmann, stellvertretende Generalsekretärin der VolkswagenStiftung, moderiert von der Wissenschaftsjournalistin Christine Prußky.

Frau Hartmann, Forschende stöhnen darüber, wie mühselig die Kommunikation in interdisziplinären Teams ist. Die VolkswagenStiftung setzt jetzt noch einen drauf und schubst Forschende in die transdisziplinäre Arbeit mit der Gesellschaft. Was muten Sie den Leuten da bloß zu?

Henrike Hartmann (schmunzelnd): Nun — für manche ist Transdisziplinarität eine Zumutung, andere sehen sie als Chance. Die VolkswagenStiftung ist jedenfalls davon überzeugt, dass die Wissenschaft in manchen Gebieten schneller vorankommt, wenn sie Akteure aus der Gesellschaft einbindet. Die Anstrengung lohnt sich.

 

Bei der Beantwortung großer gesellschaftlicher Herausforderungen darf die Wissenschaft nicht im viel zitierten Elfenbeinturm verharren.

Henrike Hartmann

Wie meinen Sie das?

Hartmann: Nehmen wir die Verkehrswende: Theoretisches Wissen allein reicht nicht, um sie in der Praxis zu schaffen und umzusetzen. Nötig ist auch so etwas wie ein "Umsetzungswissen". Dieses Wissen können Akteure aus der Praxis liefern.

Sophia Becker: Das stimmt. Stakeholder kennen die Hürden in Transformationsprozessen genau. Als Mobilitätsforscherin arbeite ich aber nicht nur deshalb ganz bewusst transdisziplinär: Die anwendungsorientierte Wissenschaft würde Gefahr laufen, am eigentlichen Problem vorbeizuforschen, wenn sie sich nicht mit den Menschen unterhält, die für die Umsetzung zuständig sind. Wenn man es schafft, mit relevanten Stakeholdern in den Dialog zu kommen, entstehen spannende Forschungsfragen, auf die man sonst nicht gekommen wäre.

Hartmann: Dass die Wissenschaft an der Gesellschaft vorbeiforscht, würde ich so zwar nicht formulieren, aber, ja: Bei der Beantwortung großer gesellschaftlicher Herausforderungen darf die Wissenschaft nicht im viel zitierten Elfenbeinturm verharren. Sie braucht außerwissenschaftliche Akteure von Anfang an.

zwei Frauen sitzen im Gespräch an einem hellen Tisch

Sophia Becker (links) und Henrike Hartmann kamen am Standort Marchstraße der Technischen Universität Berlin zu einem Gespräch zusammen.

Gilt das auch für die Förderinitiativen der VolkswagenStiftung?

Hartmann: Zumindest für einen Teil. Unser Portfolio ist strategisch strukturiert, in Grundlagenforschung, Forschung über Wissenschaft, Förderung von Talenten in unterschiedlichen Karrierestufen — und eben in den Bereich "Gesellschaftliche Transformationen". Gerade hier möchten wir, dass außerwissenschaftliche Akteure eingebunden werden, etwa in den Förderangeboten zur Zirkularität oder zur Reichtumsforschung, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Kooperation und Transfer können unserer Meinung nach zur Lösung bestimmter Herausforderungen beitragen. Allerdings ist diese Methode für Forschende gewöhnungsbedürftig. Und für uns auch. Deshalb unterziehen wir die Prozesse einer Begleitforschung, um daraus neue wissenschaftliche Erkenntnisse für die Förderarbeit zu gewinnen. Essenziell ist und bleibt bei uns stets die wissenschaftliche Qualität. Sie hat absolute Priorität.

Becker: Die Kritik an der etablierten Bewertungspraxis von wissenschaftlicher Qualität ist aber seit langem groß. Publikationen, Zitationen, Drittmittel und andere quantitative Faktoren sind immer noch entscheidend, obwohl mittlerweile auch große Forschungsförderer wie die DFG dazu mahnen, mehr auf die inhaltliche Qualität zu achten. Wie geht man damit bei transdisziplinären Projekten um? Betrachtet man Transdisziplinarität als eine eigene Dimension und achtet auf die transdisziplinäre Forschungserfahrung im Team? Forschende, die so arbeiten, publizieren in der Regel weniger als andere, weil sie viel Zeit dafür investieren, Praxispartner zu finden, das Netzwerk aufzubauen und zu steuern.

Hartmann: Tatsächlich konzentrieren wir uns im Begutachtungsprozess auf beides: Die wissenschaftliche Idee gibt auch in transdisziplinären Projekten den Ausschlag. Gleichzeitig wollen wir die Personen in Interviews kennenlernen, um zu sehen, ob sie kommunikativ in der Lage sind, ein Projekt mit Akteuren aus der Gesellschaft zu tragen. Dass diese Form des Arbeitens mehr Zeit braucht, ist uns bewusst, wir haben uns aber dagegen entschieden, deshalb von vornherein einen Zeitbonus einzuplanen. Die Förderlaufzeit liegt bei fünf Jahren.

Reicht das, Frau Becker?

Becker: Fünf Jahre sind durchaus angemessen. Wenn die Förderung beginnt, ist schon viel geschafft. Herausfordernd ist die Phase vor der Antragsstellung und Bewilligung. In der Zeit müssen relevante Stakeholder gefunden werden, die mitmachen. Weil das Projekt noch gar nicht steht, fallen potenziellen Partnern die Zusagen schwer. Als ich für unser Projekt schriftliche Absichtserklärungen von der Senatsverwaltung für Verkehr oder einem Berliner Bezirk brauchte, war ich frisch promoviert. Mir antwortete damals niemand.

Wie haben Sie es geschafft?

Becker: Ich ging mehrmals zum zuständigen Bezirksbürgermeister, führte Gespräche und hielt ihm am Ende die Erklärung unter die Nase und sagte: "Bitte unterschreiben Sie das!" Das war einen Tag vor der Abgabe, einen früheren Termin bekam ich nicht. Transdisziplinarität erfordert Durchhaltevermögen.

Müssen Sie gesellschaftliche Partner im Projekt selbst auch noch zum Jagen tragen? Immerhin haben die ja anderes zu tun, als zu forschen.

Becker: Das Netzwerk am Laufen zu halten, ist eine Kunst für sich. Man braucht politisches Geschick, um die Interessen der einzelnen Akteure einzubinden. So etwas lernt man nicht in der Promotion. In der Promotion geht es darum, sich allein in einen bestimmten Teilaspekt zu vertiefen. Bei transdisziplinären Projekten muss man sich fragen: "Wie könnte ich das Vorhaben gestalten, um einen Mehrwert für die Wissenschaft und zugleich einen konkreten Nutzen für die Gesellschaft, die Stadt oder die Region zu generieren?" Als Vizepräsidentin der TU Berlin für Nachhaltigkeit, Transfer und Transdisziplinarität habe ich diese politische Denkweise noch stärker entwickelt.

Frau Hartmann, wie finden Sie Forschende mit solchen Kompetenzen?

Hartmann: Das ist herausfordernd, aber immer mehr Wissenschaftler:innen widmen sich dieser Forschungspraxis. Darüber hinaus wird uns eine externe Personalberatung bei der Gestaltung des Begutachtungsprozesses unterstützen. Ich bin sehr gespannt.

Man braucht politisches Geschick, um die Interessen der einzelnen Akteure einzubinden. 

Sophia Becker

Frau Becker, wie sichern Sie in Ihrem Projekt eigentlich die wissenschaftliche Flughöhe?

Becker: Auch das gehört zur Kunst. Entscheidend ist die Forschungsfrage. Sie muss wissenschaftlich originell, gesellschaftlich relevant und in einem guten Forschungsdesign umsetzbar sein. Sie darf aber keine reine Transferfrage sein.

Kennen Sie transdisziplinäre Teams, die an der Qualitätsfrage zerbrachen?

Becker: So etwas passiert selten, aber es kommt vor. Das Ende eines Teams muss aber nicht zwingend an der transdisziplinären Komponente liegen. Auch zwischen den Disziplinen tauchen Konflikte auf. Wir zum Beispiel haben uns rückblickend betrachtet etwas zu wenig Zeit genommen, uns interdisziplinär zu finden, bevor wir unsere Partner aus der Gesellschaft an den Tisch holten.

Hartmann: Das ist ein ganz neuralgischer Punkt: Wann ist es sinnvoll, über die akademisch-institutionelle Grenze hinauszugehen? Darüber diskutieren wir im Kuratorium und wir stellen uns diese Frage bei unseren Initiativen und Begutachtungen. Forschende und Stakeholder der Gesellschaft treffen mit Erwartungen und Zielen aufeinander, die eben nur begrenzt kompatibel sind. Umso wichtiger ist es, zu prüfen, ob der transdisziplinäre Forschungsmodus in dem jeweils geplanten Projekt wirklich hilfreich ist. Beutegemeinschaften auf der Suche nach Zuschüssen wollen wir nicht fördern.

Ein weiterer Vorbehalt gegen Transdisziplinarität besteht darin, gemeinsame Forschung mit der Gesellschaft unterwandere die Wissenschaftsfreiheit. Gab es die Skepsis in der VolkswagenStiftung?

Hartmann: Die Sorge existiert, ist nach meinem Dafürhalten allerdings unbegründet. Ob in einem disziplinären, interdisziplinären oder transdisziplinären Projekt — es bleibt immer den Forschenden überlassen, ihre Forschungsfrage zu formulieren und das Terrain abzustecken, in dem sie sich bewegen. Wenn das Vorhaben gut geplant, die Kommunikation und die Verantwortlichkeiten klar sind, sehe ich kein Problem für die Wissenschaftsfreiheit. Neuralgische Punkte klopfen wir schon bei der Antragstellung ab. Das minimiert das Risiko unbeabsichtigter Projektverläufe.

Je länger wir reden, desto klarer wird die Komplexität des transdisziplinären Forschungswegs. Frau Becker, wenn Sie gewusst hätten, was da auf Sie zukommt, hätten Sie es gemacht?

Becker: Auf jeden Fall! Wissenschaft lebt von der Spannung zwischen Tradition und Innovation. Sie arbeitet mit bewährten Theorien und Methoden, um neue Erkenntnisse zu generieren. Um Lösungen für die Zukunft zu finden, braucht es aber auch neue Theorien und Methoden. Welchen Beitrag die transdisziplinäre Forschung an der Stelle leisten kann, lässt sich noch nicht sagen. Man kann aber davon ausgehen, dass die Ergebnisse transdisziplinärer Projekte mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit eine gesellschaftliche Wirkung entfalten.

Haben wir es mit einer Revolution zu tun?

Hartmann: Revolution ist ein großes Wort. Transdisziplinäre Forschung stellt ja nicht alles auf den Kopf. Auch wir werden nur einen gewissen Teil unserer Förderung dafür verwenden. Transdisziplinarität ist vielmehr eine Innovation, deren Stärke wir so genau noch nicht kennen. Gelingt gesellschaftliche Transformation mit diesem Forschungsmodus wirklich schneller und besser? Genau diesen Beweis treten wir jetzt an.

Transdisziplinarität fördern

Das Förderangebot der Stiftung ist in vier Profilbereiche gegliedert. In jedem spielen Fragen der Interaktion zwischen Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Rolle — werden aber mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung anlassbezogen adressiert. Im Profilbereich "Gesellschaftliche Transformationen" bilden grenzüberschreitende und multiperspektivische Ansätze erwartungsgemäß einen Förderschwerpunkt. Hier wird von den interdisziplinären Projekten erwartet, neues Wissen zu gesellschaftlichen Herausforderungen zu generieren und Wege zur Gestaltung gesellschaftlicher Transformationen zu eröffnen. Derzeit werden, neben dem themenoffenen Personenförderprogramm "Change! Fellowships and Research Groups", die Themenbereiche "Kreislaufwirtschaft", "Reichtum", "Gesundheit" und "Demokratie" mit Förderangeboten adressiert.

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