"Eine Naturkatastrophe ist wie ein Virus"
Im Interview erklärt die Epidemiologin Debarati Guha-Sapir, wie Datenanalysen die Auswirkungen von Extremwettern verdeutlichen und sogar Todesfälle verhindern können.
Debarati Guha-Sapir ist Epidemiologin und Gesundheitsforscherin. Aufgewachsen ist sie in Kalkutta, wo sie hautnah miterlebte, wie die Menschen unter Hitzewellen und Überschwemmungen leiden. Heute leitet sie das Forschungszentrum für die Epidemiologie von Katastrophen (CRED) an der Universität Louvain in Brüssel. Dieses führt auch die Datenbank EM-DAT, ein fortlaufendes Archiv zu Naturkatastrophen aller Art. Benjamin von Brackel sprach mit Guha-Sapir während des Worskhops "Data Science for Human Wellbeing" auf der Herrenhäuser Konferenz "Extreme Events – Building Climate Resilient Socities" (Hannover, Okt. 2019).
Frau Guha-Sapir, Sie sind gelernte Epidemiologin. Wie kamen Sie dazu, Naturkatastrophen zu untersuchen?
Debarati Guha-Sapir: Ein Kollege in Brüssel überzeugte mich davon, dass ich als Epidemiologin genau das Rüstzeug habe, um Naturkatastrophen zu analysieren. Denn diese entfalten sich im Grunde genauso wie ein Virus. Wenn ein Virus ausbricht, betrifft es nicht jeden in gleicher Weise. Wir untersuchen, warum manche Menschen krank werden und andere nicht, obwohl sie dem gleichen Virus ausgesetzt sind. Nach dem Muster habe ich mir dann Erdbeben und Tsunamis, Überschwemmungen und Wirbelstürme angesehen: Welche Menschen leiden zuerst darunter, welche erst später, und welche gar nicht? Später sahen wir uns auch Hitzewellen an.
Auch Europa erlebt seit einigen Jahren tödliche Hitzewellen. Wie können Daten helfen, um sich daran anzupassen?
Mithilfe der Daten können wir verstehen, welche Parameter einer Naturkatastrophe ein Risiko darstellen. Auch in der Epidemiologie dreht sich alles um diese Frage: Wie können wir das Risiko identifizieren? Wir haben zum Beispiel die Hitzewelle 2006 in den Niederlanden und Belgien untersucht, durch die fast 1000 Menschen ums Leben kamen. Wir wollten wissen, welche Menschen gestorben waren und untersuchten detailliert das Profil der Todesfälle im Zusammenhang mit Hitze. Und kamen zu dem Schluss, dass fast die Hälfte davon vorzeitige Todesfälle waren. Das sind Personen, die weit vor ihrer Lebenserwartung gestorben sind, zum Beispiel Personen unter 65 Jahren. Das war eine ganz entscheidende Entdeckung.
Warum?
Eigentlich sind vor allem ältere Menschen über 55 Jahre von Hitzewellen betroffen, weil sie schneller dehydrieren und ihr Herz nicht mehr mitmacht. Kommen aber Menschen unter 55 Jahren um, sprechen wir von "vorzeitigen Todesfällen". In dem Alter sollten sie eigentlich nicht sterben. Nicht in hochentwickelten Ländern wie Frankreich, Belgien oder Deutschland.
Was ist also passiert?
Wir stellten fest, dass die vorzeitigen Todesfälle mit einem höheren Risikoverhalten zu tun haben. Und das lässt sich kaum ändern. Eine bedeutende Anzahl der "jüngeren" Menschen starb aufgrund von körperlicher Anstrengung in der Hitze, beim Radfahren zum Beispiel. Viele gehen auch ins Schwimmbad, weil sie denken, sich damit abkühlen zu können. Aber das stimmt nicht, denn die Körpertemperatur steigt auch im Wasser weiter.
Können Daten tatsächlich etwas verändern?
Daten sind Beweise. Auf deren Grundlage treffen Politiker Entscheidungen. Und im Falle der Hitzewellen genügt es eben nicht, auf Meteorologen zu verweisen, die eine Abweichung von der Norm feststellen. Wir müssen auch erklären, wie sich Hitzewellen konkret auf die Menschen auswirken. Dass Hitze tatsächlich eine Ursache für Krankheit und Tod ist. Das nachzuweisen war gar nicht so einfach.
Warum nicht?
Auf der Sterbeurkunde steht ja nie "Hitze", sondern "Herzinfarkt" oder "Kurzatmigkeit". Also mussten wir riesige Datenmengen durchforsten und signifikante Assoziationen herausfinden. Als dann klar war, wie viele Menschen durch die Hitzewelle 2003 gestorben waren, erzeugte das enormen Handlungsdruck auf die Politik.
Was hat sich verändert?
Länder wie Deutschland und Belgien haben sehr gute Hitzepläne entwickelt. Steigen die Temperaturen über 35 Grad Celsius, verteilt unsere Universität zum Beispiel kostenloses Wasser und erlaubt den Studenten, nach Hause zu gehen, kleine Dinge. Das Problem ist die Umsetzung.
Inwiefern?
Nötig wäre eigentlich eine Rechenschaftspflicht: Wer den Hitzeplan nicht umsetzt, muss dafür verantwortlich gemacht werden können. Für kommenden Sommer sagen Klimaforscher bereits eine weitere Hitzewelle für Norddeutschland voraus - aber niemand stellt sich darauf ein. Schon heute müssten aber alle Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten informiert werden, damit sie sich wappnen können. Das sind die Orte, an denen die Probleme am gravierendsten sind.
Nach der Hitzewelle 2003 haben die Behörden doch einiges verändert, mit der Folge, dass deutlich weniger Menschen in den jüngsten Hitzewellen umkamen?
Ja, es geht in die richtige Richtung. Aber vorzeitige Todesfälle aufgrund von Hitzewellen sollte es in Europa keinen einzigen geben. Nicht mit dem Geld und den Institutionen, die wir haben. Es gibt keine Entschuldigung dafür, wenn ein 35-Jähriger stirbt, weil es einen heißen Tag gibt.