Interview

Forschung ohne Tierversuche: Was ist möglich?

#Tierversuche

Autorin: Dr. Ulrike Schneeweiß

Hände in schwarzen Laborhandschuhen halten einen durchsichtigen Objektträger mit einer gewundenen Struktur

Organ-on-a-Chip: Können Biochips, die Organe in einer Zellkultur simulieren, Tierversuche überflüssig machen? 

Um zu verhindern, dass Tiere für Laborversuche leiden müssen, orientieren Forschende sich an den 3R-Prinzipien 'reduce, replace, refine': Sie versuchen, Tierversuche möglichst zu reduzieren, zu ersetzen und zu optimieren. Welche Perspektive haben alternative Technologien? Prof. André Bleich vom Forschungsverbund R2N-Replace und Reduce in Niedersachsen im Interview.

Herr Bleich, anlässlich des Tages des Versuchstiers möchte ich mit Ihnen gerne über die Relevanz von Tierversuchen in der Grundlagenforschung sprechen… 

Andre Bleich: Da möchte ich erst einmal den Begriff präzisieren. Hier an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) betreiben wir biomedizinische Forschung, um Wissen über Krankheiten zu generieren. Uns beschäftigen präklinische Fragestellungen: Wie entstehen Krankheiten - was sind die Ursachen, Auslöser, Mechanismen. Diese Forschung geht fließend über in angewandte Forschung und die Frage nach möglichen Therapien und neuartigen Ansätzen dafür. Ich spreche gerne von hypothesen- oder fragestellungsorientierten Forschung, das umfasst den gesamten präklinischen Bereich.

Zur Person

Prof. Dr. André Bleich ist Direktor des Instituts für Versuchstierkunde und des Zentralen Tierlaboratoriums der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Er leitet den Forschungsverbund "R2N.MRS - Micro Replace Systems", an dem die MHH, die Tiermedizinische Hochschule Hannover und die Technische Universität Braunschweig beteiligt sind. Der Verbund entwickelt Methoden, die Versuche an lebenden Tieren ersetzen sollen. Die VolkswagenStiftung und das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur fördert den Verbund im Rahmen des Förderprogramms zukunft.niedersachsen

Wir haben ja keinen Bauplan des Lebens, an dem wir ablesen können, was passiert, wenn wir ein Teil herausnehmen oder verändern.

Welche Rolle spielen Tierversuche also in diesem Bereich der Forschung? 

In der hypothesenorientierten Forschung brauchen wir viele verschiedene experimentelle Ansätze. Wir haben ja keinen Bauplan des Lebens, an dem wir ablesen können, was passiert, wenn wir ein Teil herausnehmen oder verändern. Das müssen wir also ausprobieren. Dafür nutzen wir Computermodelle, in vitro Systeme - also Experimente in Reagenzgläsern - oder eben Tiere. Versuche an Tieren braucht es insbesondere dann, wenn eine Frage das komplexe Zusammenspiel verschiedener Komponenten des Körpers adressiert - von denen wir ja noch lange nicht alle kennen und das wir deshalb auch nicht vollständig in vitro nachstellen können.

Wenn wir dabei übrigens feststellen, dass ein Tiermodell nicht 'funktioniert', dass es uns nicht die gesuchten Antworten auf unsere Fragen liefern kann, dann ist das auch ein Ergebnis und trägt zum Erkenntnisgewinn bei. Zum Glück hat es sich durchgesetzt, dass auch solche negativen Ergebnisse veröffentlicht werden.

Forschende können also Zellen im Labor beobachten oder Modelle am Computer nutzen, man spricht dann von in vitro oder in silico Experimenten - oft auch als "Alternativmethoden" zusammengefasst.

Der Begriff 'Alternativmethoden' spiegelt nicht die Denkweise in der hypothesengetriebenen Forschung wider. Bei der Entwicklung und Anwendung von 'Non Animal Technologies', also tierversuchsfreien Verfahren, geht es nicht darum, einen bestimmten Tierversuch eins zu eins außerhalb des Tieres nachzustellen. Im Kern ist die Frage: Wie kann ich mich einer Fragestellung so nähern, sie so herunterbrechen, dass kein Tier dafür leiden muss?

'Alternativmethoden' ist eher geprägt von der toxikologischen und pharmakologischen Forschung. Hier sind Tierversuche als Standard für bestimmte Zwecke vorgeschrieben, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass bestimmte Tests in Tiermodellen die Sicherheit einer Substanz für den Menschen gut vorhersagen. Allerdings weiß man dabei nicht immer, welche physiologischen Mechanismen dahinter stecken. Auch in diesen Bereichen findet deshalb seit längerem ein Umdenken statt. Man möchte verstehen, warum eine Substanz bestimmte Nebenwirkungen hervorruft. 

Die Forschenden sind sich der ethischen Problematik um Tierversuche selbst bewusst.

Je besser wir die Zusammenhänge im Körper verstehen, desto besser können wir tierversuchsfreie Systeme konzipieren und einsetzen, um gezielt Effekte zu testen - das gilt für die hypothesengetriebene wie für testorientierte Forschung. Wir können zum Beispiel KI nutzen, um Effekte chemisch ähnlicher Substanzen vorherzusagen. Wir können computergestützte Simulationen physiologischer Abläufe betreiben oder Reaktionen von Zellen in vitro messen.

Wovon hängt die Entscheidung darüber ab, welcher Versuch der richtige ist?

Welches System geeignet für die jeweilige Forschung ist, hängt maßgeblich davon ab, wie komplex die Fragestellung ist. Die Frage beispielsweise, ob eine Substanz Krebszellen bekämpfen kann, lässt sich in der Petrischale beantworten. Aber kann sie auch Krebs im Körper bekämpfen? Um das zu erfahren, brauche ich ein Tier. Denn das hängt von verschiedensten Faktoren ab: Das Immunsystem spielt unter Umständen eine Rolle, Substanzen verteilen sich unterschiedlich im Körper, sie werden in bestimmten Geweben angereichert, ausgeschieden oder abgebaut.

Und heute werden nicht mehr nur chemische Substanzen als Medikamente eingesetzt. Denken Sie zum Beispiel an genetisch veränderte Immunzellen zur Krebstherapie: In der Zellkultur lässt sich beobachten, ob diese Zellen prinzipiell funktionstüchtig sind. Ob und wie lange sie aber im Körper überleben, ob sie dort bestimmte Strukturen angreifen oder selbst vom körpereigenen Immunsystem abgetötet werden, ob sich Tumorzellen vor ihnen verstecken - all das kann ich nur mithilfe eines geeigneten Tiermodells herausfinden.

Ähnliches gilt für Immunerkrankungen, chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa, auch für Infektionskrankheiten oder Transplantationen: Bei ihnen spielt das Abwehrsystem eine wichtige Rolle, das sich im Körper immer wieder anpasst und verändert. Diese Dinge können wir in der Petrischale nicht nachstellen. Ein genereller Verzicht auf Tierversuche würde dazu führen, dass wir bestimmte Erkrankungen nicht mehr erforschen könnten. 

Und anhand welcher Argumente wägen Forschende in der hypothesengetriebenen Forschung ab, ob sie einen Tierversuch durchführen oder nicht?

Zuerst einmal muss klar sein, dass keine andere Methode zur Verfügung steht, um der entsprechenden Fragestellung nachzugehen - etwa Zellkulturmodelle, Organoide oder Chip-Systeme. Und dann gibt es natürlich immer eine ethische Abwägung. Die Forschenden müssen sich fragen: Ist der Erkenntnisgewinn, den ich anstrebe, den Versuch wert? Und ist er so hoch, dass er Schmerzen, Leiden oder Schäden aufwiegt, die ich einem Tier zufüge? 

Für beides, Erkenntnisgewinn und Leid, gibt es keine objektiven Maßeinheiten. Wie gehen Sie damit um?

Das ist richtig, eine objektive Maßeinheit gibt es nicht. Es gibt verschiedene Modelle und Konstrukte, das Leiden der Tiere auf der einen sowie den Erkenntnisgewinn auf der anderen Seite zu quantifizieren und gegeneinander abzuwägen - keines davon hat sich richtig durchgesetzt. 

Bei der Konzeption eines Tierversuchs geht es grundsätzlich immer darum, die Belastung für die Tiere möglichst gering zu halten, Schmerzen auf ein Minimum zu reduzieren - etwa durch Narkosen - und den Versuch möglichst frühzeitig zu beenden. Die Forschenden sind sich der ethischen Problematik um Tierversuche selbst bewusst, deshalb sind die Qualitätsstandards in diesem Bereich besonders wichtig und besonders hoch. An jeder Entscheidung über einen Tierversuch sind mehrere Ebenen beteiligt und es fließen vielfältige Erfahrungen ein.

Welche Ebenen sind das?

Da sind zunächst die Forschenden selbst, bei denen Sie sicher sein können: Es gibt keine Gedankenlosigkeit im Umgang mit Tieren. Dann sind da die Tierschutzbeauftragten und -gremien an den Forschungsinstitutionen, die den Einsatz von Tieren in der Forschung fortlaufend diskutieren. Und auch die Behörden, die über jeden Antrag auf einen Tierversuch entscheiden, werden von Fachkommissionen beraten. Die sind unter anderem mit Tierschutzvertreter:innen besetzt. 

Es gibt große Fortschritte bei der Entwicklung von tierversuchsfreien Technologien.

Und helfen die neuen in vitro Methoden, die Anzahl nötiger Tierversuche zu reduzieren?

Dass diese Methoden an Bedeutung gewinnen, sehen wir hier an der MHH an den Zahlen: Die Anzahl der Tierversuche ist - aus verschiedenen Gründen - seit Jahren rückläufig. Und der Anteil der Tiere steigt, die verwendet werden, um Organe oder Zellen zu entnehmen und in vitro Systeme daraus herzustellen. Diese Systeme sind nicht tierfrei im engeren Sinn, es muss aber kein Tier für einen Versuch leiden. 

Es werden auch Modelle aus menschlichen Stammzellen hergestellt sowie Versuche an Patientengewebe, das bei Operationen entfernt wird, durchgeführt. Um all diese Systeme weiterzuentwickeln und zum Beispiel Infektionen oder Entzündungen besser nachstellen zu können, haben wir den R2N-Verbund initiiert.

Wie schätzen sie die Perspektiven ein, kommt biomedizinische Forschung bald ganz ohne Tierversuche aus? 

Es gibt große Fortschritte bei der Entwicklung von tierversuchsfreien Technologien. Modelle für Darm- und Lungengewebe – so auch die aus dem R2N-Verbund - kamen und kommen zum Beispiel in der COVID-Forschung zum Einsatz. R2N-Mitglieder haben auch ein in vitro System zur Sicherheitsbewertung von Gentherapien entwickelt, das nun einen wichtigen Baustein in der Entwicklung dieser Therapien bildet.

In der laufenden zweiten Förderperiode liegt einer unserer Schwerpunkte darauf, Modelle aus verschiedenen Zellen und Geweben zu erschaffen, an denen wir Infektionen besser erforschen können. Dabei entwickeln wir auch sogenannte Chipsysteme für verschiedenen Forschungskontexte weiter. Auf dem derzeitigen Entwicklungsstand stoßen in vitro Systeme allerdings schnell an ihre Grenzen, letztendlich braucht es den Tierversuch, um Ergebnisse aus in vitro Experimenten zu validieren. Das komplexe Geschehen etwa während eines Herzinfarktes und die Reaktionen des Körpers in der Zeit danach können Sie nicht auf einem Chip darstellen. 

Tierversuchsfreie in vitro und in silico Experimente helfen also zwar, einzelne Aspekte physiologischer Abläufe aufzuklären; um die Zusammenhänge im Körper zu erforschen, Krankheiten zu verstehen und Therapien zu entwickeln brauchen wir aber auch weiterhin Tierversuche…

…und wir müssen nicht nur fragen, was prinzipiell möglich ist; für unsere laufende Arbeit ist entscheidend, was wir konkret zur Verfügung haben. Letztendlich gilt für die Forschung: Es gibt ein Spektrum an Methoden. Und dieses Spektrum müssen wir in Deutschland offen halten. Sonst wandern mit den Methoden die Wissenschaftler:innen ab und uns fehlen die klugen Köpfe.

Angewandter Tierschutz [...] muss stärker gefördert werden.

Was braucht es, um das Konzept der 3R weiter zu stärken und die Entwicklung neuer Methoden voranzutreiben?

Im von der DFG-geförderten Konsortium "Severity Assessment" (Schwergradbewertung in der tierbasierten Forschung) widmen wir uns parallel zu den Tätigkeiten von R2N dem dritten 'R', dem Refinement. Wir wollen die Belastung für Versuchstiere anhand objektiver Kriterien ermitteln, um sie so weit wie möglich zu verringern. Das ist wichtig und aktuell, denn Refinement hilft den Tieren jetzt. Man muss sich immer wieder klar machen: Angewandter Tierschutz ist unser Alltag in einer tierexperimentellen Forschungseinrichtung, und der muss stärker gefördert werden. 

Der große Zulauf, den wir für den R2N-Verbund bekamen, zeigt zudem, wie wichtig diese Themen den Forschenden sind. Hätten wir die finanziellen Mittel gehabt, hätte der Verbund deutlich größer ausfallen können. Niedersachsen war zwar früh dran mit der Förderung von 3R - Forschung; das Format der projektbezogenen Förderung ist aber nicht nachhaltig. Diese Art der Forschungsförderung selektiert immer auf die originellste Fragestellung - und dazu zählt Methoden(weiter-)entwicklung nicht unbedingt. Für eine dauerhafte Perspektive brauchen wir verlässliche Förderung. Ein sinnvoll anzupeilendes Ziel wäre, die Infrastrukturen, für die wir mit R2N die Grundlagen gelegt haben, mithilfe stetiger Förderung auf- und auszubauen und ein 'in vitro Zentrum' für Niedersachsen zu etablieren. 

Was ist neben der Methodenentwicklung noch wichtig, um die 3R voranzubringen und in Forschung und Gesellschaft zu verankern?

Der R2N-Verbund hat die gemeinsame Webseite '3R-Forschung' eingerichtet, ein Portal, auf dem wir aktuelle Informationen und Beiträge zum Diskurs veröffentlichen. Zudem bauen wir auf den direkten Austausch mit verschiedenen Akteuren aus den Bereichen der biomedizinischen Forschung und Non Animal Methods, indem wir sie zum Beispiel zu unseren Veranstaltungen einladen. Wir sprechen mit Forschenden aus anderen Ländern und auch mit Unternehmensvertretenden, um zu erkunden, welche gemeinsamen Strategien wir möglicherweise für den Umgang mit den neuen Technologien entwickeln können.

Grafik von Tieren, über denen eine Spritze zu sehen ist

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