Immer feinere Messmethoden liefern immer mehr Details über die Vorgänge im menschlichen Körper. Aber wie kann man die riesigen Datenmengen, die so entstehen, für eine bessere Medizin nutzen? Daran forscht ein Konsortium unter der Leitung von Prof. Dr. Joachim L. Schultze in dem Pioniervorhaben "Swarm Learning for precision medicine in infectious diseases and pandemic preparedness".
Herr Professor Schultze, Sie sind Systemmediziner, was ist Systemmedizin?
In den letzten 50 Jahren hat sich die Medizin immer weiter spezialisiert, aber jetzt gibt es eine Gegenbewegung. Wir können jetzt sehr viele Parameter messen und mit den Methoden der Datenwissenschaften auswerten. Das bedeutet, dass wir jetzt versuchen können, Krankheitsprozesse als Ganzheit zu beschreiben und daraus therapeutische und diagnostische Verfahren abzuleiten. Das nennen wir Systemmedizin. Wir können z.B. jetzt messen, welche Gene in einzelnen Zellen abgelesen werden und welche Proteine hergestellt werden. Wir können Modelle davon erstellen, wie Zellen miteinander interagieren und wie sie sich verändern, wenn man krank wird. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten. Und zugleich ist es das, was Ärzt:innen ja ohnehin tun.
Was meinen Sie damit?
Ärzt:innen identifizieren Muster. Patient:innen berichten uns ihre Symptome, wir messen noch ein paar Dinge und versuchen dann zu erkennen, auf welche Krankheit dies alles hindeuten könnte. Diesen Prozess unterfüttern wir jetzt mit sehr vielen und sehr genauen Daten, deshalb sprechen wir auch von precision medicine, Präzisionsmedizin. Allerdings haben wir jetzt so viele Daten, dass wir technische Hilfe benötigen, um die Muster zu erkennen.
Die Hilfe von Künstlicher Intelligenz?
Ja, wir verwenden lernende Algorithmen. Anders als das menschliche Gehirn, das aus wenigen Beispielen viel lernen kann, brauchen diese Algorithmen allerdings extrem viele Daten. Und die haben wir an einzelnen Krankenhäusern nicht. Aber wenn wir viele Kliniken zusammenschließen könnten, dann wären genug Daten da.
Also tragen Sie Daten von möglichst vielen Institutionen zusammen?
Nein, genau das tun wir nicht, denn das ist problematisch. Zum einen werden die Datenmengen immer größer, es ist gar nicht mehr möglich, alle Daten zu kopieren und zu transportieren. Außerdem kostet das viel Energie und ist nicht nachhaltig. Aber vor allem möchte ich als Arzt die Daten der Patient:innen nicht aus der Hand geben; Datenschutz und Vertrauen sind in der Medizin zentral. Glücklicherweise muss man die Daten gar nicht zusammentragen und kann trotzdem mit ihnen lernen, dazu haben wir das Schwarmlernen entwickelt.
Was ist das?
Wir verbinden mithilfe der Blockchain-Technologie verschiedene Institutionen zu einem Netzwerk, das nennen wir den Schwarm. In diesem Schwarm führen wir Lernrunden durch, bei denen die Algorithmen mit den Daten der jeweiligen Kliniken auf deren eigenen Servern lernen. Und dann tauschen wir die Ergebnisse aus, die Parameter, die die Algorithmen gelernt haben. Die besten Ergebnisse werden dann an alle Schwarmmitglieder geschickt, für die nächste Lernrunde. So kann sich der ganze Schwarm immer weiter verbessern und zugleich bleiben die Daten in den jeweiligen Institutionen. Und durch die Protokolle der Blockchain können diese ihrer Sorgfaltspflicht entsprechen und bei Bedarf genau nachweisen, was wo gerechnet wurde. In dem aktuellen Projekt bilden sechs deutsche Universitätskliniken den Schwarm und sie lernen gemeinsam, Infektionen besser zu diagnostizieren.
Was ist die größte Herausforderung dabei?
Die Datenqualität. Es ist im Vergleich zu anderen Bereichen schwer, in der Medizin vergleichbare Daten zu produzieren. Es geht eben um Menschen, nicht um Maschinen. Wir verwenden sehr viel Zeit und Energie auf gute Daten, denn je besser die Daten sind, desto besser funktioniert das Trainieren. Wenn wir uns in Deutschland hier nicht auf Standards einigen, werden wir diese fantastischen Möglichkeiten nie nutzen können
Was macht ihr Projekt zu einem Pioniervorhaben?
Die Medizin benötigt neue Ansätze. In der Medizin der Zukunft wird es interdisziplinäre Teams geben, in denen auch Genomiker, Biologen und Datenwissenschaftler mit am Tisch sitzen und mitentscheiden. Darum arbeiten wir in einem so großen Konsortium zusammen. Die Idee ist: Wir fangen jetzt erstmal mit einem kleinen Schwarm an und bauen einen Prototyp. Wir wollen klären, welche Regeln wir vorgeben müssen, welche technischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, welche Hilfestellungen es braucht. Idealerweise gibt es irgendwann ein Software-Paket, das man nur noch installieren muss, um Teil eines lernenden Schwarms zu werden. Dann möchten wir den Schwarm erweitern, auch international, da haben wir schon viele Gespräche geführt und sind auf offene Ohren gestoßen.
Was bedeutet das für die Patient:innen?
Vor allem bessere Diagnostik durch eine bessere Auswertung von immer mehr Daten. Wichtig ist: Wir arbeiten an Unterstützungssystemen. Ich bin kein Freund der Idee, dass KI Ärzt:innen ersetzen könnte. Es geht um Systeme, die bei dem enormen Zuwachs an Informationen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Stundenlang MRT-Bilder auswerten, das kann ein Algorithmus wirklich besser. Aber den Patient:innen Informationen zu übermitteln, mit ihnen zu interagieren, dazu sollten Ärzt:innen Zeit haben. Die Medizin muss menschlich bleiben, das ist die größte Herausforderung. Und der stellen wir uns.