Systemkrisen: Aus der Pandemie für die Zukunft lernen
Was können wir aus der Coronapandemie für den Umgang mit dem Klimawandel für unsere vernetzte Gesellschaft lernen? Eine Herrenhäuser Konferenz hat dazu Antworten gesucht.
Von Erdsystem- bis Verhaltenswissenschaften: Unter dem Titel „Climate Related Systemic Risks: Lessons Learned from Covid-19“ kamen die Wissenschaftler:innen verschiedener Fachdisziplinen im Schloss Herrenhausen zusammen, um über die Erkenntnisse aus der Coronapandemie im Umgang mit sogenannten systemischen Risiken zu sprechen. Warum der Vergleich zwischen Pandemie und Klimawandel Sinn macht, erklärt Mitorganisator Prof. Dr. Markus Reichstein vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena.
Herr Reichstein, warum haben Sie die Konferenz unter dem Titel "Climate Related Systemic Risks" durchgeführt?
Markus Reichstein: Der Klimawandel wird immer noch zu sehr auf Kohlenstoff und Temperatur verkürzt und Risiken getrennt voneinander betrachtet. Dabei ist klar, dass systemische Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Ökosystemen und Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Ein Beispiel: Bei der gut untersuchten Hitzewelle in Russland 2010 hat die Trockenheit zu Waldbränden und Luftverschmutzung geführt, die dann zusammen mit der Hitze zu erhöhter Sterblichkeit geführt hat. Parallel hatten ausfallende Weizenernten global sozio-ökonomische Auswirkungen wie erhöhte Preise für Weizen. Die COVID-19-Pandemie hat uns wie durch ein Brennglas die systemischen Risiken vor Augen geführt, die in einer vernetzten Welt entstehen. Auch wenn die Ursachen, Virus versus Klima, ganz andere sind, gehen wir davon aus, dass wir durch den interdisziplinären Austausch vieles über systemische Risiken durch Klimawandel und Klimaextreme lernen können.
Was sind für Sie die zentralen Erkenntnisse der Konferenz?
Die systemischen Effekte der Pandemie sind sehr gut deutlich geworden, wobei viele Effekte beispielsweise auf Bildung oder die ökonomische Situation durch die entsprechenden und in meinen Augen gerechtfertigten Maßnahmen wie die Kontaktbeschränkungen und Lockdowns entstanden sind. Klar wurde auch, dass Regionen mit weniger Wirtschaftskraft, aber auch sozial und wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerungsgruppen in wohlhabenden Ländern, viel stärker von den indirekten Effekten betroffen wurden beziehungsweise weniger abpuffern konnten – eine Parallele zum Klimawandel.
Eine wichtige Erkenntnis aus der Tagung ist auf jeden Fall die Bedeutung des "human factors", also der Mensch einerseits als Betroffener, andererseits auch als Akteur. Wie ergeht es den Menschen mit den Auswirkungen, wie gehen sie damit um und wie kommunizieren sie darüber? Von dem Faktor hängt entscheidend ab, wie Gesellschaften aus systemischen Krisen herauskommen.
Und die Konferenz hat gezeigt, dass systemische Zusammenhänge auch genutzt werden können, um die Resilienz gegenüber Extremereignissen zu stärken. Oft geht es hier um das Abwägen zwischen Effizienz und Resilienz. So ist es zum Beispiel kosteneffizient, möglichst keine Lagerbestände zu haben, aber Engpässe sind dann nicht abzupuffern. Oder Versicherungsansätze, die solidarisch auch die verwundbarsten Bevölkerungsgruppen schützen, können eine systemische Abwärtsspirale stoppen, wenn etwa ein Naturereignis zum Verlust von Hab und Gut und damit zu höherer Verwundbarkeit führt. Derartige Mechanismen sollten auch zwischenstaatlich ausgebaut werden.
Wie geht es jetzt Ihrer Meinung nach in dem Forschungsfeld weiter?
Was Klimarisiken betrifft, geht die Reise bereits ganz klar in Richtung "multi-hazards" und "compound events". Das heißt, man betrachtet mehrere, auch extreme Ereignisse gemeinsam, die räumlich oder zeitlich im Zusammenhang stehen können. Der systemische Aspekt, also wie diese Ereignisse zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, muss in der Zukunft noch stärker beachtet werden. Ich denke, wir müssen uns hier viel stärker zwischen Disziplinen wie beispielsweise Psychologie, Ökonomie, Politik- und Sozialwissenschaft, Ökologie und Klimawissenschaft vernetzen. Dabei ist es wichtig, mit einem einheitlichen Paradigma voranzugehen, zum Beispiel ein Systemmodellierungsansatz, der das Einbinden von empirischen Befunden erlaubt. Dies schließt natürlich flankierende normative Forschung keinesfalls aus, also beispielsweise, was wir im Hinblick auf das Spannungsfeld Effizienz versus Resilienz denn eigentlich optimieren wollen. Wir sollten auch stärker in den Blick nehmen, wie große Datenmengen und künstliche Intelligenz helfen können, komplexe Risiken besser zu verstehen und zu entdecken, bevor es zu spät ist.
Graphic Recordings zu einzelnen Vorträgen und Diskussionen
Weiterführende Literatur
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