Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?
Lichtenberg-Professor Dr. Tobias Schlicht und Dr. Krzysztof Dolega von der Ruhr-Universität Bochum wollen dieser Frage auf den Grund gehen – am Beispiel der Diskurse rund um die Corona-Pandemie und aus der Perspektive der Philosophie.
Im Gespräch erläutert Tobias Schlicht die Arbeitshypothese und worauf das Projekt "Why do people believe weird things? The Bayesian Brain, Conspiracy Theories, and Intellectual Vices" aufbaut.
Herr Schlicht, warum glauben Menschen Verschwörungstheorien?
Tobias Schlicht: Eine Antwort darauf hoffen wir natürlich nach unseren Untersuchungen geben zu können. Diese wird wohl weder einfach ausfallen noch einen einzigen Grund für den Glauben an abwegige Verschwörungstheorien nennen. Zwar gibt es Theorien darüber, wie wir im Idealfall Überzeugungen formen und Entscheidungen treffen und was die Ursachen für atypische Überzeugungen sind, beispielsweise im Fall von Schizophrenie. Aber wir suchen eine konkrete Antwort auf die Frage, wie sich suboptimales Verhalten und Irrationalität von gesunden Personen in einer Theorie der Kognition erklären lassen. Denn die Ansicht, dass diejenigen, die an solche Erzählungen glauben, allesamt paranoid sind, ist mittlerweile überholt.
Was ist Ihre Hypothese?
Unter Verschwörungstheoretikern sollten wir zunächst differenzieren: Produzenten und Produzentinnen solcher Geschichten verfolgen in der Regel ein politisch-ideologisch motiviertes Ziel und stehen nicht zwangsläufig hinter ihren Erzählungen. Die Konsumierenden, die diese Theorien für wahr halten, hingegen schon. Gerade sie sind in Bezug auf ihre Überzeugungsgründe für uns interessant. Unsere Arbeitshypothese dazu lautet, dass sie im Lichte der von ihnen als zuverlässig betrachteten Daten zwar sogar die richtigen Schlussfolgerungen ziehen mögen, aber unter anderem wissenschaftliche Evidenz deshalb ignorieren, da sie aus Quellen stammt, die sie selbst als unzuverlässig eingestuft haben. Insofern müssen wir uns auch mit erkenntnistheoretischen Positionen zum Umgang mit Evidenz auseinandersetzen.
Inwieweit ergänzt diese Untersuchung Ihre bisherige Forschung?
In dem von der VolkswagenStiftung geförderten Hauptprojekt "Situated Cognition. Perceiving the World and Understanding Other Minds" untersuchen wir seit 2014, inwieweit situative Faktoren bei der Erklärung von Wahrnehmung und sozialer Kognition berücksichtigt werden müssen. Dabei lag der Fokus bisher vor allem auf dem Körper, Aspekten der unmittelbaren Umgebung und Werkzeugen wie zum Beispiel einem Blindenstock oder einem Smartphone und ihrer Rolle für unsere kognitiven Fähigkeiten.
Aber Kognition ist offensichtlich nicht nur bezüglich unserer physischen und sozialen Umgebung situiert, sondern auch verstärkt durch Faktoren der virtuellen Umgebungen, in denen wir uns bewegen. Dazu gehören natürlich, wenn es um das Formen von Überzeugungen geht, insbesondere soziale Netzwerke. Unsere Auseinandersetzung damit ist neu, vor dem Hintergrund der gegenwärtig populären Theorie, dass unser Gehirn im Umgang mit Unsicherheit Rationalitätsprinzipien folgt, um optimale Entscheidungen treffen zu können.
Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?
Kurz gesagt: Unser Gehirn prüft kontinuierlich unbewusst verschiedene Hypothesen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, mit der sie in der gegenwärtigen Situation zutreffen. Dabei muss es natürlich Evidenz gewichten und in Betracht ziehen, um sich für die plausibelste Hypothese zu entscheiden. Angesichts der Symptome einer Covid-19-Erkrankung und der Tatsache, dass sich das Virus über soziale Kontakte ausbreitet, ist die plausibelste Hypothese ja eigentlich die, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handelt. Gleichwohl gelangte ein substantieller Teil der Bevölkerung zu der Ansicht, dass Covid-19 durch 5G-Mobilfunktürme verursacht werde. Wäre die Krankheit mit anderen Symptomen verbunden, würde es sich zum Beispiel auf den Gleichgewichtssinn auswirken oder Schwindel verursachen, wäre die Mobilnetzhypothese plausibler. Es ist also schwer zu verstehen, warum vernünftige Menschen zu solchen Überzeugungen gelangen. Daher sind Verschwörungserzählungen, wie sie auch im Laufe der Pandemie verbreitet werden, für uns von großem Interesse, widersprechen sie doch eklatant den üblichen Rationalitätsansprüchen.
Welche Rolle spielen soziale Medien?
Angesichts der großen Rolle, die das Internet in der Verbreitung von Fake News und Verschwörungserzählungen bisher gespielt hat, führen wir die Verschiebung in der wahrgenommenen Zuverlässigkeit von Informationsquellen insbesondere auch auf Faktoren zurück, die den jeweiligen Kontext betreffen, in dem solche Überzeugungen geformt werden, wie beispielsweise die Echokammern und die Gruppendynamik sozialer Netzwerke. Wir kooperieren hier auch mit der Philosophin und Expertin zum Thema Fake News Romy Jaster von der Berliner Humboldt-Universität.
Wie prüfen Sie Ihre Hypothese?
Die Arbeitshypothese unseres Projekts lautet, dass ein rein Bayesianischer Ansatz, der unser Gehirn als rational geleitetes System betrachtet, zu kurz greift, um das komplexe Phänomen der Verschwörungserzählungen adäquat zu erfassen. Wir betonen daher, dass der soziale Kontext, innerhalb dessen Überzeugungen geformt werden, mit seiner komplexen Dynamik berücksichtigt werden muss. Außerdem ziehen wir Theorien aus der philosophischen Erkenntnistheorie heran, die sich mit sogenannten intellektuellen "Lastern" wie Leichtgläubigkeit, Vorurteilen, Bestätigungsfehlern und einem auffälligen Umgang mit Evidenz und Wissensquellen, speziell mit wissenschaftlichen Belegen, befassen. Denn solche Laster behindern den Erwerb, Transfer und Erhalt von Wissen in der sozialen Interaktion, vor allem natürlich auch in den sozialen Medien. Wichtig ist aber auch der Umgang mit dem Zeugnis Anderer als Wissensquelle und unterschiedlichen Medienkanälen allgemein. Insofern wollen wir untersuchen, durch welche Faktoren unsere Rationalität auch im typischen Normalfall begrenzt wird, nicht nur in pathologischen Fällen.
Was ist Ihr Ziel?
Methodisch steht nicht die traditionell-philosophische Begriffsanalyse im Vordergrund. Eine adäquate Theorie können wir nur durch Integration insbesondere von Studien aus der Sozial- und Kognitionspsychologie formulieren, auch wenn wir selbst keine Experimente durchführen. Als Ergebnis soll ein theoretisches Modell entstehen, das mit Hilfe der genannten Faktoren empirisch überprüfbar verständlich macht, warum ansonsten vernünftige Menschen an abstruse Verschwörungserzählungen glauben.