Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
Und vor allem: warum? Fünf Fragen an den Kulturwissenschaftler Thorsten Gieser zur konfliktbeladenen Rückkehr der Wölfe nach Deutschland.
Mit seinem Projekt "The Return of the wolf to Germany: mapping extraordinary affective encounters" wurde Thorsten Gieser in der Initiative "Originalitätsverdacht? – Neue Optionen für die Geistes- und Kulturwissenschaften" (fortgeführt unter dem Titel "Aufbruch") der VolkswagenStiftung ab 2019 gefördert. Jetzt liegt das Ergebnis seiner Forschung unter dem Titel "Leben mit Wölfen. Affekte, Gefühle und Stimmungen in Mensch-Wolf-Beziehungen" als Buch vor. Wir befragten ihn in einem Kurzinterview.
Komplexe Emotionen, vor allem auch Ängste, spielen nicht nur im Märchen eine große Rolle in der Beziehung von Mensch und Wolf. Was zeichnet die aktuelle Situation in Deutschland aus?
Im Gegensatz zu historischen Situationen erleben wir heute eine Vielfalt von unterschiedlichen Gefühlen gegenüber dem Wolf, von Abneigung bis Faszination. Und interessanterweise überwiegen gesamtgesellschaftlich die ‚positiven‘ Gefühle. Wir sehen aber auch eine große Dynamik: Die Rückkehr der Wölfe ist ein seit 20 Jahren andauernder und noch nicht abgeschlossener Prozess, und die Gefühle entwickeln sich mit. Wo der Wolf schon ‚angekommen‘ ist, gibt es auch Gewöhnungseffekte, wo er neu auftaucht, irritiert er zunächst.
Welche Rolle haben Emotionen speziell in den Konflikten, die wir um den Wolf sehen?
Es ist wichtig zu sehen, dass es sich bei diesen Konflikten nicht einfach um ‚Meinungsverschiedenheiten‘ handelt. Die Beteiligten fühlen sich in unterschiedlicher Weise betroffen und sind emotional involviert. In meiner Forschung ging es mir darum zu zeigen, dass es sich dabei nicht nur um spontane Gefühlsausbrüche handelt. Wer zum Beispiel verstehen will, warum viele Jäger dem Wolf ablehnend gegenüberstehen, muss auch wissen, wie es sich generell anfühlt, heute in dieser Gesellschaft Jäger zu sein, und wie der Wolf diese Gefühlsdispositionen irritiert.
Und wie ist da ihr Ansatz?
Ich verstehe Menschen und Wölfe als ökologisch situierte Lebewesen, die EINE gemeinsame Lebenswelt bewohnen. Sie stehen daher zwangsläufig in einer Beziehung zueinander, die von beiden Seiten beleuchtet werden muss. Dazu bedarf es eines interdisziplinären Ansatzes, der die relevanten Disziplinen verbindet: ethnologisch-kulturwissenschaftlich für die menschliche Dimension der Beziehung und ethologisch-ökologisch für die tierische. Nur so können beide Seiten als aktive Akteure in ihrer jeweils spezifischen Weise analysiert werden.
Sie haben ethnografisch geforscht. Was bedeutet das konkret?
Die Ethnographie ist eine qualitative Forschungsstrategie, ein multimethodischer Ansatz, bei dem Daten über einen längeren Zeitraum hinweg erhoben, gesammelt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im Zentrum standen bei mir die teilnehmende Beobachtung von Wolfsveranstaltungen, Rissbegutachtungen, Monitoring etc., über 40 Interviews mit verschiedensten Akteuren und die Analyse von Medienberichten und Diskussionen in sozialen Medien. Darüber hinaus habe ich fast 300 Stunden an Aussichtspunkten verbracht, um Wölfe zu beobachten und über 200 Kilometer auf der Suche nach Wolfsspuren wie z.B. Kot zurückgelegt.
Wie kann der Konflikt zwischen Wolfsfreunden und -gegnern entschärft werden, und wie kann das Zusammenleben von Wildtier und Mensch besser gelingen?
Es geht darum, die emotionalen Dimensionen des Konflikts sichtbar zu machen und anzuerkennen, anstatt sie von vornherein durch gut gemeinte "Sachlichkeit" zu verdrängen. Dann geht es darum, das Verhältnis von Gefühlen und Fakten zu klären, d.h. zu verstehen, welche Rolle sie in unserer Aushandlung des Zusammenlebens mit Wölfen spielen. Schließlich brauchen wir einen reflektierten Umgang mit Gefühlen: Gefühle sind nicht einfach gegeben und wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Wir können individuell und als Gesellschaft beeinflussen, wie wir Gefühle erfahren und wie wir auf sie reagieren.
Mehr zu Buch und Autor
Thorsten Gieser ist derzeit Senior Researcher am Institut für Ethnologie der Czech Academy of Sciences. Ihm ist wichtig, dass seine Ergebnisse auch über die Wissenschaft hinaus praktische Anwendung im Wolfsmanagement finden. Geplant sind unter anderem Vorträge in den nächsten Monaten an der Inland Norway University of Applied Sciences in Evenstad, Norwegen, und der Wolvesacrossborders-Konferenz in Stockholm, Schweden. Eine englische Ausgabe seines Buchs ist in Planung.
Thorsten Gieser: Leben mit Wölfen. Affekte, Gefühle und Stimmungen in Mensch-Wolf-Beziehungen, transcript 2023 (auch open access)