Protestbewegungen: Welche Auswirkungen haben sie auf die Demokratien in Europa?
#Transdisziplinarität #DemokratieWahlsiege autoritärer Parteien, Demos gegen rechts, Fridays for Future und zunehmender Populismus: Die Demokratien in Europa stehen unter Spannung. Das Projekt "ProDem" hat die Auswirkungen von Protestbewegungen auf die Demokratieentwicklung in sechs europäischen Ländern untersucht.
Die Demokratie in Europa befindet sich im Wandel. Viele Länder sehen sich mit wachsenden populistischen Bewegungen und dem Erstarken autoritärer Strömungen konfrontiert. So sind in einigen osteuropäischen Ländern demokratische Prinzipien durch die Einschränkung der Pressefreiheit, die Schwächung unabhängiger Justizsysteme und den Machtmissbrauch von Regierungen bedroht. Gleichzeitig ist in vielen westeuropäischen Demokratien ein Erstarken populistischer Parteien und eine damit einhergehende Spaltung der Gesellschaft zu beobachten. "Die Polarisierung, der Hass, das Infragestellen langjähriger demokratischer Prozesse – das alles treibt mich ziemlich um", sagt Claudius Wagemann, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt.
Neben antidemokratischen Tendenzen nimmt auch die Zahl der Protestbewegungen in Europa zu. Das Spektrum der Anliegen ist breit: Es geht um soziale Ungleichheit, um Klimaschutz, um Migrationsfragen, um Korruption oder um den Schutz individueller (Menschen-)Rechte. Manchmal entstehen aus Protestbewegungen sogar politische Parteien, sogenannte Bewegungsparteien, die in europäische Parlamente einziehen, wie etwa die EU-kritische und populistische Fünf-Sterne-Partei in Italien.
Wie steht es um die Demokratie in Europa und wie wirken sich Protestbewegungen auf sie aus? Das wollten Claudius Wagemann und sein Team im Projekt "ProDem – Protests and Democracy" herausfinden.
Proteste und Demokratie erforschen
Das interdisziplinäre Forschungskonsortium unter der Leitung von Claudius Wagemann untersuchte von Oktober 2020 bis März 2024 gesellschaftliche politische Teilhabe in Form von aktiven Bürger:innen, Protestbewegungen und Bewegungsparteien sowie deren Auswirkungen auf die Demokratieentwicklung in Europa. Gefördert wurde das Projekt von der VolkswagenStiftung im Rahmen der inzwischen beendeten Initiative "Herausforderungen für Europa". Neben der Goethe-Universität Frankfurt sind die Universitäten Kopenhagen, Mailand, London (City) und die Babeș-Bolyai-Universität im rumänischen Cluj-Napoca beteiligt.
Das internationale Team, bestehend aus Wissenschaftler:innen der Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Soziologie, forschte in sechs europäischen Ländern: Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Italien, Rumänien und Ungarn. Allerdings mussten sie Ungarn von Rumänien aus erforschen: "Wer dort arbeitet, überlegt sich zweimal, ob er regierungskritische Ergebnisse veröffentlichen will", erklärt Wagemann. Ein Beispiel dafür, wie sich antidemokratische Tendenzen auch auf die Wissenschaftsfreiheit auswirken können.
Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Wissenschaft
Wie die Qualität der Demokratie zu bewerten ist, wollten die Forschenden aus Sicht der Bevölkerung herausfinden. Dafür arbeiteten sie eng mit außerwissenschaftlichen Akteur:innen zusammen: Mit der Zivilgesellschaft, den Medien und politischen Organisationen. Dieser transdisziplinäre Ansatz ermöglichte realitätsnahe Erkenntnisse und direkt aus den Ergebnissen abgeleitete Handlungsempfehlungen für die Politik.
Ihre Handlungsempfehlungen zur Frage, wie die Politik antidemokratischen Entwicklungen entgegenwirken und auf zivilgesellschaftliche Proteste reagieren kann, durfte das ProDem-Team Abgeordneten des EU-Parlaments sowie der Vizepräsidentin der EU-Kommission persönlich vorstellen. "Es war ein echtes Highlight unseres Projekts, dass wir unsere Ergebnisse dort präsentieren konnten. So etwas passiert wirklich nicht oft", sagt Wagemann. "Unsere Forschung ist auf großes Interesse bei den Politiker:innen gestoßen. Ich mache mir Sorgen um den Zustand der Demokratie in Europa. Wenn unsere Forschung dazu beiträgt, etwas zu verändern, wäre das wirklich schön!"
Ein Forschungsgegenstand in Bewegung
Ursprünglich wollte die Forschungsgruppe die Auswirkungen von Protestbewegungen der Jahre 2011 bis 2019 untersuchen – von der Finanzkrise über die Pegida-Demonstrationen bis hin zu Fridays for Future. Doch kaum war ProDem gestartet, brachte die Covid-19-Pandemie mit der Querdenken-Szene noch eine weitere Protestbewegung ins Spiel.
Das Team erweiterte den Untersuchungszeitraum. "In der Wissenschaft nennt man das ‚Aiming at a moving target‘. Eigentlich rate ich meinen Bachelor- oder Masterstudierenden immer davon ab, zu hochaktuellen politischen Ereignissen zu forschen, weil es dann sehr schnell komplex wird. Aber wir als Forschungsgruppe im Projekt ProDem konnten natürlich eine solch drastische politische Zäsur nicht ignorieren. Zum Glück hat die VolkswagenStiftung diese kurzfristige Erweiterung ermöglicht", erklärt Wagemann.
Viele Sorgen bestätigt
Die Wissenschaftler:innen kombinierten eine Vielzahl von Fragestellungen und Methoden. Das Londoner Team führte beispielsweise eine Bevölkerungsumfrage in den sechs Ländern durch. In Kopenhagen wurden Social-Media-Strategien untersucht und in Frankfurt gingen Wagemann und sein Team der Frage nach, ob und wie die Anliegen der Protestbewegungen in die Politik einfließen.
Die Ergebnisse des Projekts bestätigen viele Befürchtungen. Die Menschen in Europa sorgen sich um die sinkende Qualität der Demokratie, so ein zentrales Ergebnis von ProDem. Fehlendes Vertrauen in die Politik ist unter den Bürger:innen in Europa weit verbreitet – das betrifft sowohl die nationale als auch die EU-Politik. „In diesem Zusammenhang war es interessant zu sehen, dass das Vertrauen in EU-Institutionen höher ist, wenn die Menschen ihrer eigenen nationalen Politik wenig Vertrauen schenken“, erklärt Wagemann. Ein weiteres Ergebnis: Wenn die Bürger:innen der Demokratie misstrauen, sinkt ihre Bereitschaft, sich an ihr zu beteiligen.
Protestbewegungen und ihre Auswirkungen auf die Demokratie
Die Untersuchungen zum Zusammenspiel von Protestbewegungen und Politik zeigen, dass antidemokratische Parteien Protestbewegungen oft für ihre eigenen Ziele funktionalisieren. So griff etwa in Deutschland die Alternative für Deutschland (AfD) eine Forderung der Pegida-Bewegung nach mehr direktdemokratischen Verfahren auf. Während die Pegida-Anhänger:innen ihre Forderung aber allein auf die Begrenzung von Migration bezogen hatten, verallgemeinerte die AfD den Appell und verkaufte sie als (vermeintliche) Demokratiestärkung. Die Tendenz, dass antidemokratische Parteien Protestbewegungen nutzen, um ihre Macht auszubauen, ist auch in anderen Ländern zu beobachten.
Bewegungsparteien, also Parteien, die aus Protestbewegungen entstehen, wurde in der Politikwissenschaft bisher eine große Rolle zugeschrieben. Die Grenze zwischen Protestbewegungen und Parteien löse sich immer mehr auf, so eine gängige Annahme. ProDem bestätigt dies nicht: "Wir haben in unserem Untersuchungszeitraum in den sechs Ländern nur eine einzige echte Bewegungspartei gefunden, die wirklich aus einer Protestbewegung hervorgegangen ist: die Fünf-Sterne-Partei in Italien. Parteien mögen sich selbst als Bewegungsparteien bezeichnen, aber sie bleiben klassische Parteien – oder werden es recht bald", erklärt Wagemann.
Stärkung der Demokratie: Wege in die Zukunft
Die steigende Zahl von Protestbewegungen verdeutlicht das lebendige demokratische Engagement vieler Bürger:innen. Viele dieser Bewegungen können dazu beitragen, die Demokratie zu stärken, indem sie wichtige Themen auf die politische Agenda setzen, und Demokratie inklusiver gestalten.
"Die einzige Konstante in der Politik ist ihr Wandel", erklärt Wagemann. "Und so wie sich die Gesellschaft verändert, muss das auch die Politikwissenschaft mit ihren Themensetzungen und Forschungsaktivitäten tun." Die Forschungsarbeit von Projekten wie ProDem und die Kooperation mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteur:innen zeigen, dass ein breites Interesse besteht, demokratische Prinzipien und das etablierte europäische Wertesystem zu verstehen und zu verteidigen.
Im Sommer 2024 wird das Forschungsprojekt ProDem durch ein gemeinsames Buch mit den Forschungsergebnissen abgeschlossen. Claudius Wagemann und die weiteren beteiligten Wissenschaftler:innen möchten auch nach Projektende die Demokratien in Europa erforschen und Handlungsempfehlungen für die Politik bereitstellen.