Bauernsohn, Querdenker, Kosmopolit
Einer, der auszog, das Wissenschaftssystem zu verändern: Nach 24 Jahren verabschiedet sich Wilhelm Krull als Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Persönliche Gedanken von einer, die ihm über zwei Jahrzehnte hinweg immer wieder begegnet ist.
Den Hünen, der leicht gebeugt, aber in forschen Schritten die Treppe heruntereilt, um mich um die Mittagszeit im Eingangsbereich seiner Stiftung zu empfangen, kenne ich seit fast einem Vierteljahrhundert. Ich bin ihm in all diesen Jahren immer mal wieder begegnet, in ganz unterschiedlichen Rollen, aus ganz verschiedenen Anlässen. Immer habe ich es mit einem Mann zu tun gehabt, der gleichwohl bodenständig wie auch visionär auftritt; der wohlgelitten ist bei der Elite aus Wissenschaft, Politik und Stiftungssektor – und der es sich dennoch erlaubt, ein Freigeist zu sein und andere dazu anzustiften, Althergebrachtes über Bord zu werfen und Neues zu wagen: Dr. Wilhelm Krull, der Generalsekretär der VolkswagenStiftung.
1996 wurde er mit gerade mal 44 Jahren und zur Überraschung vieler Insider in dieses einflussreiche und prestigeträchtige Amt berufen, vorbei an bestens vernetzten und höchst selbstbewussten Konkurrenten. Einer, der unser Wissenschaftssystem geprägt hat wie nur ganz wenige in seiner Generation. Weil er sich stark dafür machte, alte Zöpfe abzuschneiden, aber sich ebenso Trends entgegenstellte, wenn er diese für unsinnig hielt.
Der Bauernsohn aus dem Emsland
Woher stammt dieser Wilhelm Krull eigentlich, der sich bei den Großkopferten aus Wissenschaft, Politik und Stiftungswesen so mühelos Gehör verschafft, dessen Einladungen zu Konferenzen und Vorträgen von der Führungsriege ebenso wie vom Nachwuchs so gerne wahrgenommen werden? Und woher rührt es, dass der Chef der größten privaten Wissenschaftsförderin in Deutschland, mit einem Stiftungskapital von rund 3,2 Milliarden Euro, sich fast immer die Zeit für ein Telefonat nimmt, wenn man ihm eine Ideenskizze für ein Projekt sendet oder wenn man ihn bittet, sein Netzwerk zu aktivieren? Auch holt er die Journalistin, die im Foyer auf ihn wartet, selber ab, um sie in die hauseigene Kantine und anschließend durch das ganze Haus zu führen – darin eingeschlossen eine Führung zu den Werken von Künstlern wie Grieshaber, Calder, Dali, die die Wände des im nüchternen Stil der 60er-Jahre erbauten Stiftungsgebäudes in der Kastanienallee 35 im Stadtteil Hannover-Döhren in ein etwas freundlicheres Licht rücken.
Viel Persönliches lässt sich Krull nicht entlocken. Nur so viel: Er ist im Emsland (Niedersachsen) aufgewachsen. Von dort stammt auch seine Familie.
Krull ist Vater von zwei Söhnen und einer Tochter, Großvater einer Enkelin und Ehemann. Auf die Frage, ob sich seine Frau darauf freut, dass er bald mehr Zeit zu Hause verbringt, antwortet Krull: "Wir gehen nach Hamburg, wo ich ein neues Institut zum nachhaltigen Wirtschaften aufbauen werde. Mich als Privatier zurückzuziehen, das ist derzeit keine Option für mich."
Emsland, das ist dort, wo ein Teil der Bauern aktiv bei den Grünen und der Anti-Atomkraft-Bewegung mitmischt, wo man sich auch schon mal auf den Traktor setzt und bis vors Bundeskanzleramt nach Berlin fährt, um lautstark gegen die Berliner und Brüsseler Agrarpolitik zu protestieren. Das ist dort, wo man nicht viel redet, recht stur sein kann und sehr viel Zeit hat, um sich in Bücher zu versenken und andere Welten zu erkunden. Zumindest war das so in den 1950er- und 1960er-Jahren, als Wilhelm Krull dort auf einem Bauernhof heranwuchs, als Ältester von fünf Kindern und einer von drei Schülern im gesamten Ort, die aufs Gymnasium gingen. Auf dem Rücksitz seines Dienstwagens, gelenkt vom eigenen Chauffeur und ausgestattet mit einem Hightech-Telefon, frage ich: "Wie viel steckt denn heute noch in Ihnen von diesem Bauernsohn aus dem Emsland?" Die Frage amüsiert ihn und bringt ihn zum Lächeln.
Denn ja: Diese Kindheit und Jugend im Emsland haben den Stiftungsmanager Krull geprägt, hierher kommen seine Bodenständigkeit, sein Pragmatismus, seine zupackende Art. Und an dem festzuhalten, was ihm wichtig ist und richtig erscheint, auch wenn andere das nicht so sehen. Zum Beispiel an seiner Studienwahl: Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Politikwissenschaft. Jura oder Medizin hätten seine Eltern mehr überzeugt. Beunruhigt hat sie aber vor allem, dass es ihren Ältesten zum Studium ausgerechnet ins dunkelrote Bremen zog, wo in den 1960er-Jahren besonders wild der Kampf gegen das Establishment tobte.
Der Undogmatische
Im Rückblick auf seine Studentenzeit sagt Krull, der später an die Uni Marburg wechselte: "Das waren sehr aufregende Jahre. Die vielen Demonstrationen und Diskussionen haben mich nicht kaltgelassen." Weniger gefielen ihm die ständige politische Indoktrination, die teilweise an Gehirnwäsche grenzte, und die ausufernde Gewalt und Aggressivität. Für den Germanisten und Politikwissenschaftler Krull, der Wert auf eigenständiges, tabufreies Denken legte, war der Geist der Achtundsechziger dann doch etwas zu eng, zu beschränkt.
Ganz anders das, was er in Oxford erleben durfte, wo er von 1980 an vier Jahre lang als DAAD-Lektor an der Eliteuni tägig war: Freiheit atmete er dort ein und gewann Einblick in ein anderes, sehr erfolgreiches Hochschulwesen, das stark getrieben wurde von Wettbewerb und Leistungsmessung, Autonomie und Exzellenz. Themen, die später auf seiner Agenda zur Reformierung des deutschen Wissenschaftssystems stehen sollten. Ein kleiner Kupferstich aus dem alten Oxford, ein Geschenk, hängt in seinem Büro in der Stiftung an einer Seitenwand. Und es wird ihn gefreut haben, dass ihm in diesem November ein Honorary Fellowship von St. Edmund Hall, Universität Oxford, zuteilwurde.
Die Stationen nach Oxford: wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität in Bonn (1984), führende Positionen beim Wissenschaftsrat in Köln (1985-1993) und in der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft in München (1993-1995), bis dann der Ruf an die Spitze der VolkswagenStiftung folgte. Eng damit verbunden: zahlreiche Funktionen und Ehrenämter in nationalen und internationalen Institutionen und Gremien.
Die Welt der Wissenschaft und zunehmend auch die der Stiftungen ist global. Krull, der seine Lehr- und Wanderjahre in Oxford verbrachte, macht auf dem internationalen Parkett eine "bella figura". Ausländische Ministerien, Wissenschaftsorganisationen und Stiftungen suchen seinen Rat. Zum Beispiel ist er Mitglied in der Expertenkommission zur Neustrukturierung der Graduiertenausbildung im französischen Wissenschaftssystem, im Research, Innovation and Enterprise Council (RIEC) des Ministerpräsidenten von Singapur, im International Advisory Board der Universität Helsinki. Um nur einige wenige zu nennen.
Der Konsequente
In die Politik gehen wollte Wilhelm Krull jedoch nie, obwohl das bei seiner Expertise, seinem Einfluss und seinem ausgezeichneten Netzwerk naheliegend gewesen wäre. Nach dem Warum gefragt, antwortet er unmissverständlich: "Sehen Sie nur die arme Frau Merkel. Diese unsäglichen Angriffe auf Politiker und diese um sich greifende Aggressivität – das ist nichts für mich."
Scharmützel und Ranküne widerstreben ihm zutiefst, und wenn es darum geht, sich aus der Schusslinie zu bringen und verlorene Gefechte hinter sich zu lassen, fackelt der Manager Krull nicht lange. Die Schlammschlacht in diesem Sommer um den Nachfolger von Göttingens langjähriger Unipräsidentin Ulrike Beisiegel quittierte er im August 2019 mit seinem sofortigen Rücktritt als Vorsitzender des Stiftungsrates und des Stiftungsausschusses der Göttinger Universität. In einem Sechszeiler, sehr höflich, sehr distanziert formuliert. Kein persönlicher Subtext, aus dem Externe seine – unter vier Augen sehr wohl geäußerte – Verärgerung und Enttäuschung über einige Kreise der Göttinger Professorenschaft hätten herauslesen können. Auch kein bösartiges Häppchen für die Presse, die sich daran doch so gerne gelabt hätte, zumal in der Sommerlochpause. Einfach nur ein Schlussstrich!
Dabei hatte Krull die Umwandlung der Traditionsuniversität in eine Stiftung seit 2003 mit viel Verve, diplomatischem Geschick und Unerschrockenheit begleitet und auch vorangetrieben. Natürlich gefiel das nicht jedem. In Göttingen glauben immer noch einige Wissenschaftler, dass Wissenschaftsfreiheit gleichzusetzen sei mit einem Dasein im Elfenbeinturm, frei von jeglicher Verpflichtung gegenüber der (sie alimentierenden) Gesellschaft. Anlässlich des Festaktes zur Überführung der Göttinger Universität in die Trägerschaft einer Stiftung öffentlichen Rechts 2003 mahnte Festredner Krull vorausschauend: "Die bloße Änderung einer Rechtsform ist an sich noch kein Garant für die größere Gestaltungsfreiheit von Universitäten."
In diesem Kontext eine persönliche Beobachtung: Vor ein paar Jahren, nachdem Göttingen seinen Exzellenzstatus im Rahmen der Exzellenzinitiative verloren hatte, lud mich der Vorsitzende des Stiftungsrates Krull ein, mir das Zukunftskonzept "Göttingen. Tradition – Innovation – Autonomie" näher anzuschauen. Dazu zählte auch die Teilnahme an einer Sitzung mit führenden Mitgliedern der Universität. Ein sehr unangenehmes Erlebnis. Ein Hauen und Stechen und das vor einer außenstehenden Journalistin. Offensichtlich ging es einigen Anwesenden weniger um die gemeinsame Sache als vielmehr um die eigene Profilierung. Am Stuhl der Präsidentin zu sägen, sie in Misskredit zu bringen und ihren Platz einzunehmen – diesem Drehbuch folgte das traurige Schauspiel. Wer loyal zu der über die Jahre zunehmend angefeindeten Präsidentin stand, war Wilhelm Krull: Überzeugt von ihrer wissenschaftlichen Exzellenz wie auch von ihren Führungsqualitäten, stand er der international renommierten Biochemikerin und Hochschulmanagerin bei ihrem schwierigen Amt zur Seite. Bis zum Schluss.
Und obwohl das Göttinger Terrain für ihn durch die Vorfälle der Sommermonate etwas verbrannt war, nahm er selbstverständlich an der von der Universität ausgerichteten Abschiedsfeier für Ulrike Beisiegel Ende September dieses Jahres teil. In der staubedingt fast zweistündigen Autofahrt von Hannover nach Göttingen, wo wir gerade noch pünktlich zum Festakt ankamen, äußerte er seine Sorge über die mangelhafte Streitkultur im Wissenschaftsbetrieb und den "inhärenten Konservatismus, der im Wissenschaftssystem selbst steckt" und der nur schwer zu überwinden sei.
Der Förderer
Wilhelm Krull kann gut mit Frauen und mit Männern. Die Frauen, mit denen er zusammengearbeitet hat, äußern sich sehr wertschätzend über ihn. "Wie ist er denn so als Vorgesetzter?" Auf diese Frage antwortet vertraulich eine langjährige Mitarbeiterin aus seiner Führungsriege: "Als ganz junge Frau, direkt nach dem Studium, habe ich fast zeitgleich mit ihm in der Stiftung angefangen. Und heute stehe ich beruflich da, wo ich bin, weil er mich all die Jahre über gefördert und motiviert hat. Ich habe ihm viel zu verdanken." Was sie besonders an ihm schätze: "Er hört aufmerksam zu, ist nie aufbrausend oder aggressiv. Er gibt einem Feedback, gerne dann auch mit Alternativvorschlägen, aber immer in einem wertschätzenden Ton."
Für Krull, den bodenständigen Chef und Förderer von Talenten für die Wissenschaft, zählt Leistung, möglichst anhaltend und möglichst exzellent. Was er nicht mag, sind Aufschneider, Platzhirsche, die aufgrund ihres Auftretens, Stammbaums oder alten Netzwerkes nach oben gelangen und sich womöglich auch noch dort auf ihren Lorbeeren ausruhen. Krull weiß auch, dass Frauen in der Wissenschaft oft sehr viel mehr leisten müssen als ihre männlichen Kollegen, um nach oben zu kommen.
Nicht zuletzt geprägt vom Geist der 1960er- und 1970er-Jahre, als die Frauenbewegung für mehr Chancengleichheit und Gendergerechtigkeit auf die Straße ging, nutzt Krull seinen Einfluss, um Veränderungen im System anzuschieben und langfristig zu verankern. Wenn auch eher auf dem stillen Weg der Reform – Taschenlampe statt Feuerwerk. So zeichnete er 1999, damals seit drei Jahren Generalsekretär der VolkswagenStiftung, als Verantwortlicher den "Bericht der internationalen Kommission zur Systemevaluation der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft". Ein im Nachgang kontrovers diskutiertes Papier, das in der Folgezeit eine große Wirkungskraft entfaltete. Es enthielt zentrale Empfehlungen zur Forschungsförderung in Deutschland. Ungewöhnlich scharf und damals als eines der ersten kritisierte das Expertengremium die "Qualifizierungs- und Beschäftigungsbedingungen" als "Hindernis besonders auch für die angemessene Teilhabe und Förderung von Frauen im Wissenschafts- und Forschungssystem".
Der Freigeist und Anstifter
Wilhelm Krull lädt ein, und alles, was Rang und Namen hat, kommt herbeigeeilt. Ein kleines, aber beeindruckendes Ereignis während meines zweitägigen Besuchs in diesem September ist das "Forschungs- und hochschulpolitische Werkstattgespräch" im Schloss Herrenhausen, der ehemaligen Sommerresidenz der Welfen, die auf Initiative von Krull mit Geldern der VolkswagenStiftung wieder aufgebaut wurde und seit 2013 als Tagungszentrum und Museum genutzt wird. Auf dem Programm steht das Thema "Global zusammen wachsen – zukunftsweisende Internationalisierungsstrategien und supranationale Forschungsverbünde". Eigentlich eine Thematik, zu der die Wissenschaftsinstitutionen selber eine Veranstaltung auf die Beine stellen könnten. Das tun sie auch. Aber der Unterschied sei, wie mir mehrere der teilnehmenden Hochschulleiter sagten, der Rahmen: "Hier können wir uns im geschützten Raum, ganz tabufrei, mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Hochschulen austauschen."
Freiräume zu schaffen, um dem Konformitätsdruck, der auf der Wissenschaft lastet, etwas entgegenzuhalten, ist ein Anliegen, das Wilhelm Krull bei all seinen Initiativen und Projekten verfolgt. So trägt nicht von ungefähr eine der von ihm besonders geschätzten Förderinitiativen der Stiftung den Titel "Offen – für Außergewöhnliches". Wissenschaftler erhalten hier die Gelegenheit, Projekte zu verfolgen, die in keine Schublade passen. "Wir sehen uns sehr stark als Ermöglicher besonders origineller Ideen und haben auch den Anspruch, Neuland zu betreten." So fasst Wilhelm Krull seine Förderphilosophie zusammen.
So könnte man vielleicht auch sein Lebenswerk beschreiben. Wäre er denn schon fertig damit.