Bis zum letzten Schuss - die Geschichte der Jagd auf Spitzbergen
Frigga Kruse erforscht auf Spitzbergen, wie die Jagd auf Walrosse und andere Tiere über Jahrhunderte zum Aussterben der Arten vor Ort geführt hat. Dabei ist die Archäologin nicht nur an historischen Fakten interessiert. Sie will lernen, wie die Menschheit sorgsamer mit natürlichen Ressourcen umgehen kann.
Spitzbergen ist eine karge und unwirtliche Inselgruppe. Sie liegt weit im Norden in der Arktis und nur gut 1.000 Kilometer vom Nordpol entfernt. Spitzbergen ist die meiste Zeit des Jahres von Schnee bedeckt. Wenn er schmilzt, kommt Geröll zum Vorschein, auf dem sich eine schüttere Pflanzendecke ausbreitet – Moose, Steinbrechgewächse oder Wollgras. Ein liebliches Eiland sieht anders aus. Frigga Kruse aber zieht es seit mehr als zehn Jahren immer wieder hierher.
Während ihres Sommerurlaubs führt die Archäologin von der Universität Kiel Touristen über die Insel. Und als Wissenschaftlerin hat sie Spitzbergen zu ihrem wichtigsten Untersuchungsgebiet gemacht. Frigga Kruse ist Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung und hat sich zum Ziel gesetzt, mit ihrem Projekt "Timeless Arctic", die Geschichte der Jagd in dieser Region zu rekonstruieren – um daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
400 Jahre Jagddruck
Die lange Geschichte der Jagd auf Spitzbergen begann, nachdem der niederländische Seefahrer und Entdecker Willem Barents 1596 die Westküste der Hauptinsel als Erster genauer erkundet und große Bestände an Eisbären, Grönlandwalen, Polarfüchsen, Spitzbergen-Rentieren und Walrossen entdeckt hatte. Und so reisten in den folgenden 400 Jahren Jäger aus Norwegen, Russland aber auch Deutschland und anderen Ländern nach Spitzbergen, um fette Beute zu machen. "Mit der Zeit rottete der Mensch die Grönlandwale und Walrosse von Spitzbergen aus", sagt Frigga Kruse. "Ich möchte herausfinden, wie das Verhalten der Menschen konkret zum Aussterben der Tiere geführt hat."
Dabei ist ihr die Gleichung "Der Mensch kam, und dann waren alle Tiere tot" zu simpel. Frigga Kruse will im Detail untersuchen, welche Entscheidungen der Menschen zum Aussterben führten. "Man kann davon ausgehen, dass die Jäger die Tiere keinesfalls ausrotten wollten, denn damit ging ja ihre Lebensgrundlage verloren", sagt die Forscherin. "Welche Fehlentscheidungen hat man also getroffen, sodass trotz schrumpfender Bestände weiter gejagt wurde. Welchen gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Druck gab es?"
Arbeit wie bei der Spurensicherung
Ihre Arbeit gleiche ein wenig der Spurensicherung, wie man sie aus den CSI-Filmen kenne, sagt sie: Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sucht sie an den Stränden Spitzbergens nach Knochenresten, um daran Spuren der vergangenen Jagd zu finden. Sie untersucht den Sand und Kies mit Metalldetektoren und will im kommenden Jahr erstmals Drohnen einsetzen, um aus der Luft nach Spuren zu suchen. Seit 2008 forscht sie regelmäßig auf Spitzbergen, seit 2019 als Freigeist-Stipendiatin.
Vor zwei Jahren hatte sie einen Strandabschnitt in der Trygghamna-Bucht genauer untersucht. Sie hatte den Hinweis bekommen, dass dort sehr viele alte Walrossschädel zu finden seien. Ihre Masterstudentin Rosanna von Bodegom untersuchte die Knochen, die dank der arktischen Kälte recht gut erhalten waren. Rosanna von Bodegom fand dort nicht nur Schädel, sondern die Reste ganzer Skelette – ein Hinweis darauf, dass man es vor allem auf die Stoßzähne abgesehen und die Kadaver einfach liegen gelassen hatte. Frigga Kruse fand Schrotmunition und die Kugel einer Muskete und konnte damit in etwa die Epoche abschätzen, in der man die Tiere geschossen hatte.
"Wenn es uns gelingt, die Geschichte der Jagd im Detail zu rekonstruieren, dann können wir auch für die Zukunft daraus lernen, denn auch heute sind viele Tierbestände durch Übernutzung gefährdet", sagt Frigga Kruse. "Man denke nur an den Meeresfisch." Verstehe man die Mechanismen, die zum Aussterben geführt haben, könne das eine Lehrstück für das heutige Handeln sein. "Denn oftmals ist uns unser Fehlverhalten auch heute nicht bewusst."
Eine Erholung ist möglich
Die Bestände der ausgerotteten Spitzbergen-Populationen von Grönlandwal und Walross haben sich seit dem Ende der Jagd vor einigen Jahrzehnten glücklicherweise wieder erholt. Seit dem Verbot der Walrossjagd in den 1950er Jahren sind die Walrosse vermutlich vom russischen Franz-Joseph-Land-Archipel nach Spitzbergen eingewandert. Auch der Grönlandwal ist aus anderen Meeresgebieten zurückgekehrt. Der Polarfuchs, die Rentiere und die Eisbären waren nie ganz verschwunden, doch waren die Bestände mit der Jagd enorm eingebrochen. Auch diese Arten sind heute auf Spitzbergen wieder häufig anzutreffen. Während der Feldarbeit übernimmt Frigga Kruse deshalb oft die Eisbärenwache: Mit dem Feldstecher beobachtet sie, ob neugierige Eisbären dem Team zu nahe kommen. Und für den Fall der Fälle, hat sie selbst ein Karabinergewehr dabei.