Digitalisierung in der Medizin: Das geht uns alle an
Medizinethiker Robert Ranisch macht deutlich, wie stark die Digitalisierung Gesundheitswesen und Forschung verändert.
Der Satz überrascht ein wenig: "Eigentlich bin ich kein großer Freund des Begriffs Ethik", sagt Robert Ranisch. Als Juniorprofessor für Medizinethik muss er sich aber natürlich ständig damit auseinandersetzen. Doch dann wird deutlich, was er eigentlich meint: "Vor allem, wenn man dahinter gleich den erhobenen Zeigefinger wittern muss. "Ranisch gelangte über Umwege zur Ethik. Eigentlich wollte er freier Künstler werden. Ein Atelier war schon angemietet, die Bewerbungsmappe für Weimar vorbereitet. Dann suchte das Institut für Angewandte Ethik in Jena jemanden für die Neugestaltung eines Logos. Ranisch bot sich an, arbeitete sich ein und wurde als Hilfskraft am Institut angestellt. Schnell merkte er, wie sehr ihn ethische Fragen in Medizin, Technik und Wirtschaft interessieren, und er begann mit dem Philosophiestudium. Nach einem Studienaufenthalt in England landete er schließlich am Ethikzentrum der Universität Tübingen.
Seit Robert Ranisch 2021 den Ruf an die Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg – eine gemeinsame Fakultät der Universität Potsdam, der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg – angenommen hat, lebt er in Potsdam. Hier beschäftigt er sich nun schwerpunktmäßig mit all den digitalen Technologien, die die Medizin revolutionieren wollen: Roboter in der Pflege, künstliche Intelligenz in der Diagnostik, Mental-Health-Technologien.
Was die Digitalisierung verändert
Ranisch sieht, wie stark die Digitalisierung das Gesundheitswesen, die biomedizinische Forschung und die klinische Praxis verändern wird. Doch ist das der Gesellschaft überhaupt bewusst? Wollen wir das? Welche Fragen stellen sich konkret? "Ich möchte mit den Menschen diskutieren und herausbekommen, wo der unverhandelbare harte Kern ihrer Überzeugungen liegt und wo wir mit Informationen feste Positionen auflockern und womöglich verschieben können", sagt Ranisch.
Da für ihn ethische Fragen mitten in die Gesellschaft gehören, freut er sich darauf, in Potsdam auch außerhalb der Universität aktiv zu werden. Mit einem Bürgerparlament und Kneipenabenden zum Austausch mit Wissenschaftler:innen will Ranisch mit den Brandenburger:innen über die Digitalisierung der Medizin ins Gespräch kommen. "Es gibt beachtliche Entwicklungen, die sicher bald in die Regelversorgung eingehen und die Diagnose unterstützen werden", erklärt er. Ermittelt der Algorithmus zum Beispiel den Befund Hautkrebs, wie gehen wir damit um? "Und wenn mir meine App sagt, meine Lebensweise erhöht das Risiko für Herzerkrankungen um 32 Prozent, was mache ich mit dieser Information?" fragt Ranisch.
Wenn der Befund nicht von der Frau oder dem Herrn Doktor kommt, sondern von einer Maschine, verändert sich natürlich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. "Ich finde es sehr wichtig, diese Entwicklungen auch aus dem ethischen Blickwinkel zu begleiten", betont der Juniorprofessor. Bei der KI-Diagnostik gebe es zudem häufig das "Black-Box-Problem". "Mitunter kann man nur schwer nachvollziehen, wie die Maschine überhaupt zu ihrem Ergebnis gekommen ist", so Ranisch.
Unsicherheiten tauchen auf: "Traue ich der Maschine, wie kann ich das Ergebnis überprüfen?" Dieses Misstrauen resultiert möglicherweise auch daraus, dass es wegen der neuen Technologien völlig neue Akteure in der Medizin gibt. Da sind nicht mehr nur die zur Verschwiegenheit verpflichteten Ärztinnen und Ärzte, mit ihrer klaren Wertegrundlage und dem bis in die Antike zurückreichenden Berufsethos "erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen". Da gibt es nun auch Informatiker:innen, Techniker:innen, Hersteller:innen, die an den Datensammelmaschinen basteln und Auswertungen programmieren – mit völlig anderer Sozialisierung. "Das hat eine gewisse Sprengkraft: Wie sieht es aus mit der Sicherheit der Daten, was hat Priorität, der Profit oder das Wohl des Patienten?", fragt Ranisch.
Gewissheiten und Werte verschieben sich
Auch der Einsatz von Robotern in der Pflege oder der Chirurgie wirft schwierige Fragen auf. Welche Technik ist in der Pflege wünschenswert, welche ist es nicht? Wie sieht es zum Beispiel mit digitalen Demenzpuppen oder Pflegerobotern aus? "Im ersten Schritt verschaffe ich mir einen Überblick über technische Details, lese, was andere bisher schon zum Thema geschrieben haben oder auch, ob es hier rechtliche Vorgaben gibt." So erklärt Robert Ranisch sein eigenes Vorgehen zur ethischen Beurteilung einer Fragestellung, zum Beispiel, wenn er von Angehörigen oder Pflegekräften eingeladen wird. Dann arbeitet er mögliche Konfliktlinien heraus. So vorbereitet steigt er ein ins Gespräch mit den Beteiligten.
Das sind zum einen kranke oder ältere Menschen und die Pflegenden, zum anderen adressiert er in seiner wissenschaftlichen Arbeit uns alle. "Jeder sollte sich die Frage stellen: Welchen Umgang wünsche ich mir, wenn ich in 20 oder 30 Jahren vielleicht einmal selbst gepflegt werden muss", sagt Ranisch. "Welchen Wert hat menschliche Nähe? Kann und darf menschliche Zuwendung durch eine Maschine, die Nähe nur vortäuscht, ersetzt werden?"
Durch die Digitalisierung können sich nicht nur die Werte verschieben, auch bestehende Gewissheiten geraten ins Wanken. Neue Situationen ergeben sich beispielsweise, wenn nicht nur Menschen, sondern auch Roboter an medizinischen Behandlungen oder Operationen beteiligt sind. Wenn dabei etwas schiefgeht, sei es typisch menschlich, nach einem Verantwortlichen zu suchen, sagt Ranisch. "Diese Konstante bricht, wenn bei der Operation ein Roboter assistiert hat. Im Falle eines Fehlers kann dann ein Schuldiger nicht mehr so klar ausgemacht werden." Auch auf solche Folgen medizinischer Entwicklungen möchte der Ethiker aufmerksam machen und Impulse für einen Diskurs geben.
Vom Nachdenken zur Meinungsbildung
Der Austausch ist eine Grundbedingung für das, was die Ethik im Kern ausmacht: das Abwägen. "In meinem Fachgebiet tauschen wir uns über Entwicklungslinien in der Wissenschaft und der Gesellschaft aus. Letztlich fragen wir nach den Bedingungen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, an dem es sich gut leben lässt", sagt Ranisch. Wer sich mit dem 37-Jährigen unterhält, kann eine Kernkompetenz, die dieses Abwägen unbedingt braucht, sofort bemerken: Ranisch ist ein guter Zuhörer, der sich offen und ohne Allüren den Fragen und Anmerkungen seines Gegenübers stellt, sie ernst nimmt und mit seinen eigenen Gedanken anreichert oder ergänzt. Sein Ziel ist es, möglichst viele Menschen in der Gesellschaft zu erreichen, sie für ethische Fragen zu sensibilisieren und vor allem zur Meinungsbildung anzuregen.
Das hat er schon in seinem – von der VolkswagenStiftung geförderten – Forschungsprojekt "ZukunftMensch" angestrebt und realisiert. In Kooperation mit Julia Diekämper vom Berliner Museum für Naturkunde beschäftigte sich Ranisch von 2018 bis 2020 mit den Herausforderungen der modernen Gentechnologie.
Anlass für Ranisch und seine Mitstreiterin waren die beiden ersten, in China geborenen Babys Lulu und Nana, deren Erbgut gentechnisch so verändert werden sollte, dass sie sich nicht mehr mit dem HI-Virus anstecken können. In dem Projekt ging es nicht nur darum, mit Akteuren des Wissenschaftsbetriebs Chancen und Risiken solcher Anwendungen herauszuarbeiten, auch Menschen ohne Fachwissen wurden beispielsweise mit Workshops, Filmabenden und einer Schreibwerkstatt erreicht und zum Nachdenken motiviert.
"Wenn der Mensch mit der Genschere CRISPR in sein eigenes Genom und dadurch womöglich sogar in die Evolution eingreift, dann sollte das nicht nur unter Expert:innen diskutiert werden. Das geht uns alle an", sagt Ranisch.
Mit DiMEN die Medizinethik stärken
So wichtig ethische Perspektiven in der Medizin schon lange sind, in der Ausbildung von Ärzt:innen wird die Medizinethik immer noch etwas stiefmütterlich behandelt. Mit der Digitalisierung ergeben sich zudem völlig neue Herausforderungen, die eine neue Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und neue Antworten erfordern. Entsprechende Weiterbildungsangebote zur Medizinethik fehlen aber häufig, meint Robert Ranisch.
Die Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit einer modernen, den Entwicklungen angepassten Medizinethik früh einsetzen muss und möglichst flächendeckend und qualitätsvoll geführt werden sollte, verbindet ihn mit den Medizinethikern Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing und Prof. Dr. Hans-Jörg Ehni von der Universität Tübingen. Um strukturelle Veränderungen in der Breite bewirken zu können, haben die drei Wissenschaftler gemeinsam die Idee des Digital Medical Ethics Network (DiMEN) entwickelt. Ihr ambitioniertes Vorhaben wird von der VolkswagenStiftung gefördert. Mit DiMEN gehen sie die Herausforderung an, dass die Bedeutung medizinethischer Fragestellungen in einer deutlichen Diskrepanz zur institutionellen Gewichtung des Faches steht – und dass dem sich ändernden interdisziplinären Profil der Medizinethik Rechnung getragen werden muss. So sollen deutschlandweit zum Beispiel Ethik-Angebote für Einrichtungen geschaffen werden, denen eigene Strukturen für die Medizinstudierenden fehlen. Geplant ist auch die Entwicklung eines Curriculums zur Stärkung der Ausbildung sowie die Initiierung eines Forschungshubs zur Grundlagenforschung, Vernetzung und Qualifizierung von Wissenschaftler:innen.
"Wir sind ein Stück weit ein Fremdkörper im Medizinbetrieb, nicht zuletzt aufgrund der Interdisziplinarität der Medizinethik. Angesichts knapper Mittel ist es leider immer noch ein gewisser Luxus, wenn sich ein Universitätsklinikum einen Lehrstuhl für Medizinethik leisten kann", stellt Robert Ranisch fest. Er ist froh, jetzt mit DiMEN dem "kleinen Fach" Medizinethik etwas mehr Gewicht geben zu können. Und dass das Projekt auch die Chance zur Erprobung von digitalen Angeboten der Ethikberatung bietet, die ganz praktisch auch der Patientenversorgung zugutekommen kann, freut ihn besonders.