Dinosaurier-Schicksal als Wissenschaftsvermittlung
Eine paläontologische Graphic Novel lässt eine Europasaurier-Herde in ihrem Ökosystem wieder lebendig werden – auf der Basis der Fossilfunde bei Goslar.
Dinosaurier sind ein Glücksfall für die Paläontologie – und vermutlich für die gesamte Wissenschaft: Sie faszinieren Menschen seit fast 200 Jahren als zunächst künstlerisches und später popkulturelles Thema, befeuert durch immer neue Entdeckungen und immer präzisere Darstellungen. Dinosaurier sind ein Anker der Naturwissenschaften in den Köpfen aller Altersgruppen, beflügeln die Phantasie und machen neugierig auf Forschung.
Dass sie dabei nicht nur von gestern sind, weiß Geologe und Paläontologe Dr. Oliver Wings: "Wir können aufgrund des Studiums der Vergangenheit unseres Planeten Prognosen entwickeln, wie es in der Zukunft weitergehen wird." Gerade auch den Blick auf das Zusammenleben in Ökosystemen versucht er in seinem mit dem Künstler Joschua Knüppe gemeinsam entwickelten Buch "Europasaurus – Urzeitinseln voller Leben" zu schärfen. Der zweisprachige, deutsch-englische Band, dessen Entwicklung die VolkswagenStiftung als beispielhaftes Projekt der Wissenschaftskommunikation gefördert hat, trägt auf dem Cover den Zusatz: "Graphic Novel".
Eine Erzählung mit Bildern also, eine, bei der Text zunächst in den Hintergrund rückt. "154 Millionen Jahre… Eine kaum vorstellbare Zeitspanne. Wie anders mag unsere Welt vor so langer Zeit ausgesehen haben […]", stimmt das Vorwort auf eine Geschichte rund um verzwergte Riesendinosaurier ein, die einst auf einer Insel in der heutigen Harzregion lebten – eine Geschichte, die all das zusammenfasst, was Forscher bislang über die Europasaurier, deren Zeitgenossen und Umwelt herausgefunden haben.
Es geht dem Wissenschaftler und dem Künstler aber nicht um wissenschaftliche Schaubilder, sondern um lebendiges Wissen - also auch um Action: Wie haben sich die Tiere bewegt? Was machte das Leben in ihrer Umgebung aus? Wer fraß wen auf? Der wissenschaftliche Anspruch der Illustrationen ist hoch, aber an einem bestimmten Punkt müssen zwangsläufig Vorstellungskraft und vorsichtige Spekulation die Erkenntnisse aus den fossilen Belegen ergänzen. Wo Muskeln an Knochen ansetzten, lässt sich rekonstruieren. Aber ob da Schuppen oder Federn waren? Welche Farben vorherrschten? Jede Visualisierung beinhaltet – wie bei allen Rekonstruktionen ausgestorbener Spezies auch – Interpretation.
Aus dem Skizzenbuch von Paläo-Künstler Joschua Knüppe
Fest steht, dass der Europasaurus auf einer Insel in einem Flachmeer lebte, mit wenig Nahrung und wenigen Feinden – und wohl deshalb über Generationen kleiner wurde. Fest steht ebenso, dass mit seinen Überresten auch zahlreiche Fossilien anderer Arten und Gattungen in einem Steinbruch bei Goslar gefunden wurden. Knüppe zeigt alle diese Tiere vorne und hinten im Buch, auf den Doppelseiten des Vorsatzpapiers, als eine Art gezeichnetes Personalverzeichnis der erzählten Geschichte. In Grau- und Brauntönen gehalten, sind sie eher skizziert und doch präzise dargestellt – und beflügeln eigene Bildwelten in den Köpfen der Leser. Ein Maßstabsraster macht die Größenverhältnisse klar.
Im Inneren des Buchs löst Malerei die klar umrissenen Zeichnungen ab und nutzt die sinnlichen Möglichkeiten dieses Genres. Knüppe hat mit Pigment- und Acrylfarben eine eigene bunte Welt geschaffen: Die großformatigen Bilder auf Doppelseiten wirken weitgehend für sich, kleine Sequenzen tauchen als Nebenstränge oder Detailblicke auf. Die kurzen Texte bleiben beschreibend, als habe sich ein Tierfilm Bernhard Grzimeks in ein längst vergangenes Erdzeitalter verirrt: "Schwärme von wandernden Flugsauriern kündigen den neuen Tag an", steht zum Beispiel auf einem stimmungsvollen Dämmerungsbild.
Dabei entwickelt die Geschichte geschickt ihren Sog, kommt ihren Protagonisten stetig näher, wechselt mit kleinen Binnenhandlungen von einem Tier zum nächsten, bis sie schließlich den Europasaurus erreicht. Wings wagt eine Erklärung für den Fund der Überreste von über 20 Tieren im Langenberg Steinbruch, indem er einen Blitz ins flache Wasser einschlagen lässt, in dem die Herde steht – und schickt dann ein überlebendes Jungtier in einer Art Roadmovie durch sein Ökosystem auf die Suche nach Artgenossen. Im Vorbeigehen begegnen die Leser mit ihm Raubsauriern, Aasfressern, Landkrokodilen, Echsen oder Insekten – und begleiten sie jeweils kurz auf Nahrungsketten-Exkurse.
Die Vielfalt von Fauna und Flora und detaillierte Informationen zum Ökosystem finden sich wieder in einem umfangreichen Sachteil, der die wissenschaftlichen Belege zu allen Szenen liefert: Was wurde gefunden, was lässt sich daraus ablesen, wie sah der Lebensraum konkret aus, an welchen Punkten muss man abstrahieren oder interpretieren? Es ist ein faszinierender und lehrreicher Einblick in die Paläontologie und ihre Rekonstruktionsversuche, mit dem das Buch abschließt – einer, der neugierig auf einen Museumsbesuch macht. Da fällt es nicht allzu sehr ins Gewicht, dass vielleicht mancher von einer Graphic Novel mehr Erzählung erwartet hätte.
Man kann das Buch "Europasaurus" als Hybrid zwischen Bilderbuch, Ausstellung, Dino-Park, Breitwandaction, Tierfilm und populärem Lehrbuch betrachten. Dass dieser in seiner Bandbreite zwischen zwei Buchdeckel passt, ist beachtlich. Denn so lassen sich all diese Formate einfach unter den Arm klemmen, Freunden zeigen, zum Schmökern aufs Sofa mitnehmen, und mit anderen Saurier-Darstellungen oder wissenschaftlichem Material vergleichen – ob von Kindern oder Erwachsenen. Das setzt einen gewichtigen Dino-Anker im Alltag, während das Forschungsschiff an fast unendlich langer Kette zu immer neuen Entdeckungsfahrten durch alle Zeiten aufbricht.
Mehr zum Europasaurus
Die VolkswagenStiftung hat die Forschung von Dr. Oliver Wings an den Funden vom Langenberg unter dem Titel "Das Europasaurus-Projekt: Die oberjurassische Inselfauna von Oker, Niedersachsen" von 2011 bis 2016 gefördert. Oliver Wings ist heute Kustos der Geowissenschaftlichen und Geiseltal-Sammlungen der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg. Für die Erarbeitung der Graphic Novel gemeinsam mit Paläo-Künstler Joschua Knüppe (Kunstakademie in Münster) und Henning Ahlers stellte die Stiftung zusätzlich Mittel für Wissenschaftskommunikation zur Verfügung.
Die meisten der im Steinbruch bei Goslar gefundenen Europasaurus-Fossilien lagern im Dinopark Münchehagen und sind für wissenschaftliches Arbeiten verfügbar. Neben über 230 lebensechten Dinosaurier-Rekonstruktionen ist dort auch eine kleine Europasaurus Herde zu sehen. Im Live-Labor & Forschungszentrum Münchehagen werden die versteinerten Knochen von Europasaurus und anderen Dinosauriern vor den Augen der Besucher freigelegt.
Drei animierte Episoden aus der Graphic Novel zum Europasaurus sowie eine Buchbesprechung finden sich im Online-Magazin "campus halensis" der Universität Halle-Wittenberg.
Im Landesmuseum Hannover ist noch bis zum 29. August 2021 die Ausstellung KinoSaurier aufgebaut, die in Teilen auch virtuell erlebbar ist.