Meine Daten für alle?
Das Auswerten personenbezogener Daten bietet immensen Nutzen, doch die Bedenken sind groß. Was tun, damit mehr Menschen ihre Daten teilen?
Es gibt ein Narrativ, das gerade in Deutschland besonders wirksam ist. Es handelt von einem scheinbar unauflösbaren Dilemma. Auf der einen Seite eine Gesellschaft, die immer stärker von den Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger profitieren könnte – medizinische Daten zur Bekämpfung von Krankheiten, Mobilitätsdaten zur Reduzierung von Unfällen, Konsumdaten zur Entwicklung nachhaltiger Produkte. Und auf der anderen Seite eben jene Personen, die nicht bereit sind, solche als sensibel empfundenen Daten zu teilen – zu groß die Angst vor Missbrauch, zu wichtig die Wahrung der Privatsphäre. Das Ergebnis: viel Datenschutz, wenig Innovation. Leider. Aber die Menschen wollen es eben so.
Nur: Was wäre, wenn das so gar nicht stimmte? "Mir ist das alles viel zu pauschal, viel zu sehr in einem Schwarz-Weiß-Schema gedacht", sagt Frauke Kreuter, Professorin an der Universität München. "Fragt man Menschen, ob sie bereit wären, sensible persönliche Daten zu teilen, sagen die wenigsten ja. Aber nicht deshalb, weil sie es unter keinen Umständen tun würden, sondern weil die Frage einfach zu eindimensional gestellt war. Fragt man präziser, und genau das sollten gute Studien ja leisten, kommt man nämlich zu ganz anderen Ergebnissen."
Die in Deutschland und den USA lehrende und forschende Expertin für Statistik und Datenwissenschaft engagiert sich schon lange dafür, unseren gesellschaftlichen Umgang mit Daten auf eine zeitgemäße empirische Grundlage zu stellen. Denn dass Menschen inzwischen grundsätzlich bereit sind, auch sensible Daten zu teilen, ist für sie gar keine Frage mehr. "Das zeigt sich doch im Alltagsverhalten, wenn wir Dienste wie Facebook, Google und Amazon nutzen: Wir teilen unsere Daten – im Austausch gegen kostenlose Nutzung und immer weiter verbesserten Service."
Was ist nachvollziehbar? Was bedeutet "privat"?
Spannend für die Sozialwissenschaftlerin Kreuter ist die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit wir das Teilen persönlicher Daten als angemessen empfinden. "Dann müssten wir uns nicht länger damit quälen, das Persönliche besonders gut zu schützen und viele Daten zurückzuhalten, sondern könnten uns darauf konzentrieren, den Datenfluss so zu gestalten, dass der nachvollziehbar und akzeptabel für die Menschen ist." In einem aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie dies für die speziellen Bedingungen der Corona-Pandemie. "The Covid-19 Pandemic and Data Sharing for the Public Good" so lautet der Titel der Studie. Der Ansatz ist interdisziplinär, neben sozialwissenschaftlichen Überlegungen sollen auch ethische und rechtliche Aspekte berücksichtigt werden.
Dreh- und Angelpunkt für Kreuter ist dabei unser Verständnis von Privatheit. Hier fordert sie ein fundamentales Umdenken. "Es ist immer noch weit verbreitet, das Private als einen Bereich zu definieren, der streng kontrolliert und geschützt werden muss – sinnbildlich als die eigenen vier Wände, aus denen nichts herausdringen darf. Dieses Bild beschreibt die Realität in unserem digitalisierten Alltag inzwischen aber nur noch ungenügend." Ob wir eine Situation als privat empfinden oder nicht, habe vielmehr mit dem Kontext zu tun, in dem sie eingebettet ist.
Hochsensible medizinische Daten zu teilen sei ja kein Problem und sogar erwünscht, wenn der Empfänger der eigene Arzt ist und der Austausch vertraulich erfolgt. Auf keinen Fall akzeptieren würden wir es allerdings, wenn auch unser Arbeitgeber darauf zugreifen könnte. "Wenn man es genau durchdenkt, hat Privatheit eigentlich nicht das Verhindern eines Informationsaustausches zur Bedingung, sondern die Art und Weise, wie wir Informationen austauschen und sie verwerten." Das Charmante an diesem Ansatz: Privatheit und Informationsfluss, Datenschutz und Innovation wären keine schwer überwindbaren Gegensätze mehr, sondern vereinbar im Rahmen eines jeweils spezifischen Kontextes.
Der Kontext macht’s
Detailliert ausgearbeitet hat diesen Gedanken Helen Nissenbaum, Professorin für Informationswissenschaft an der Cornell Tech University (New York, USA), die schon länger mit Kreuter zusammenarbeitet und auch am aktuellen Covid-19-Forschungsprojekt beteiligt ist. Nach Nissenbaum sind es inzwischen vor allem unser Wissen über die Art und Weise der Datenübertragung und die dabei involvierten Akteure, die unser modernes Empfinden von Privatheit bestimmen. Kontextintegrität (Contextual Integrity) nennt sie diesen Ansatz und definiert fünf relevante Parameter, nach denen wir im Alltag die Angemessenheit von Datenströmen beurteilen: den Sender, den Empfänger, die Art, den Gegenstand und die Bedingungen, unter denen die Daten übertragen und ausgewertet werden.
In ihrer Forschung nutzt Kreuter das Konzept der Kontextintegrität, um anhand konkreter Szenarien zu überprüfen: Wie spielen diese einzelnen Parameter zusammen? Wie verändert sich die Akzeptanz der an der Studie Teilnehmenden, wenn der Kontext leicht angepasst wird? Der wichtige Aspekt des Zwecks der Datenverarbeitung, in Nissenbaums Modell eher implizit durch den Parameter "Empfänger" beschrieben, wird ebenfalls explizit untersucht. Damit soll etwa genauer zwischen Datenverarbeitung für einen persönlichen oder gemeinschaftlichen Nutzen differenziert werden. "Es war spannend, das Szenario einer Datenweitergabe an eine Behörde mit dem Zweck der Bekämpfung einer Infektionskrankheit genau zu beobachten: Die Übermittlung von mit dem Smartphone gesammelten Daten zum eigenen Gesundheitszustand stößt durchaus auf Akzeptanz, solange man den Transfer und die Auswertung der Daten als sicher und vor Missbrauch geschützt definiert.
Auch der Datenschutz muss sich ändern
Kreuter zieht daraus den Schluss: Wer die Bereitschaft zum Teilen von Daten erhöhen will, muss die Menschen mit Kontextwissen versorgen, vor allem auch den Sinn und Zweck einer Datenerhebung besser erklären, und Missbrauch effektiv verhindern. "Was sich hier schon andeutet, und was wir weiter überprüfen wollen: Menschen haben gar nicht so sehr mit dem Teilen sensibler Daten an sich ein Problem – solange der Nutzen klar beschrieben wird. Was sie viel eher hemmt, ist die Unsicherheit, was später mit ihren Daten passieren könnte."
Dies hat auch Implikationen für datenschutzrechtliche Fragen. "Wir sehen, wie bestehendes Datenschutzrecht zunehmend an der realen Datennutzung vorbeiläuft", sagt Thomas Fetzer, Juraprofessor an der Universität Mannheim und Forschungskollege von Frauke Kreuter. Die Regulierung der Datenerhebung durch die Einwilligung der Nutzenden, wie sie im Europäischen Datenschutzrecht vorgesehen ist, stoße zunehmend an ihre Grenzen. "Die Menschen sind schlicht überfordert von der Entscheidung, welche Daten sie für wen freigeben sollten." Statt die Kontrolle bei Datenerhebungen aufwendig zu gestalten, sollte man sich vielmehr auf die Kontrolle der Datenverwendung konzentrieren. "Wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs darüber, was mit erhobenen oder zur Verfügung gestellten Daten getan werden darf und was nicht", so Fetzer. Dem müsse eine daran angepasste Ausrichtung der Datenschutzgesetzgebung folgen.
Auch Frauke Kreuter erhofft sich einen gesamtgesellschaftlichen Impuls: "Im Idealfall schaffen wir es, ein Rahmenwerk bereitzustellen, das es endlich ermöglicht, das immense Potenzial gemeinschaftlich genutzter Daten zu entfalten und zugleich das legitime Bedürfnis nach informationeller Selbstbestimmung zu berücksichtigen."