Mind the Game!
In Computerspielen beweist KI ihre kommunikative Intelligenz: Sie passt sich individuellen Bedürfnissen an und schenkt Erfolgserlebnisse. Eine interdisziplinäre Projektgruppe will dieses Potenzial näher ergründen.
Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact hat knapp die Hälfte aller Deutschen keine genaue Vorstellung, was unter "Künstlicher Intelligenz" zu verstehen ist. Zugleich aber spielen 46 Prozent der Bundesbürger Computer- und Videospiele, die schon seit geraumer Zeit in erheblichem Umfang von KI-Algorithmen gesteuert werden.
"Wir haben somit das Paradoxon", sagt Markus Rautzenberg, Philosophieprofessor an der Essener Folkwang Universität der Künste, "dass die öffentliche Diskussion um die Risiken zukünftiger KI-Anwendungen wie selbstfahrende Autos und intelligente Roboter kreist, während die KI in Gestalt von Computerspielen schon längst Einzug in die Wohnzimmer gehalten hat. 34 Millionen deutsche Gamer haben sich bereits in täglicher Praxis an den Umgang mit KI gewöhnt."
Die gesellschaftlichen Auswirkungen möchten nun Forscherinnen und Forscher aus Medienwissenschaften, Soziologie, Philosophie, Design und Psychologie gemeinsam mit KI- und Softwareentwicklern gründlich durchleuchten. "Mind the Game!" ist der Kurztitel des von Rautzenberg initiierten Projekts, das von der VolkswagenStiftung mit einem Planning Grant gefördert wird. Die begrenzte Unterstützung soll dem interdisziplinären Team eine Phase des Zusammenfindens ermöglichen, in der es eine gemeinsame Sprache entwickeln und sich methodisch dem komplexen Thema nähern kann – mittels Workshops, "Think Labs" und internationaler Zusammenarbeit. Solchermaßen vorbereitet, will man sich anschließend bei der Stiftung um ein Full Grant bewerben in der Förderinitiative "KI und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft von morgen".
Das Projektteam kommuniziert ausdauernd, möglichst auch direkt. So wie anlässlich des dritten Workshops im Jahr 2019 in der Folkwang-Uni – ein mit Glas- und glitzernden Metallplatten armiertes Kreativ-Raumschiff der Moderne, sanft gelandet in Essens musealem Ruhrpott-Ambiente aus stillgelegten Zechen, Kokereien und sich kreuzenden Kohleförderbändern.
Ziel von "Mind the Game!" ist es, KI nicht nur als technik- und ingenieurwissenschaftliche Disziplin zu verstehen, sondern zugleich als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. "Wenn ein Gamer aktiv mit den KI-Charakteren eines Computer- oder Videospiels in Wechselwirkung tritt", erklärt Rautzenberg, der sich intensiv mit Spieltheorie befasst hat, "begibt er sich in eine Sphäre, die wir ‚sozio-intelligenten Raum‘ nennen." – "Das Ganze ähnelt einem Theaterbesuch", ergänzt der in Lüneburg lehrende Computerwissenschaftler Mathias Fuchs, der Informatik und Komposition studiert hat und auf elektronische Musik in Computerspielen spezialisiert ist. "Im Theater fühlen und leiden wir intensiv mit Romeo und Julia, obwohl wir wissen, dass es nur Schauspieler sind, die nicht wirklich sterben werden."
Das Besondere an Spielen ist, dass sich die Spiele-KI – im Gegensatz zur Theater-Darbietung – ganz individuell auf das Können und die Bedürfnisse des Spielers einstellen kann, so dass der entstehende sozio-intelligente Raum entsprechend belebt und gestaltet wird. Dazu muss die KI sehr flexibel auf die Bedürfnisse des Spielers eingehen. An dieser "kommunikativen Kompetenz" der Spiele-KI ist – dank der Vermittlung von Gabriele Gramelsberger, Professorin für Wissenschafts- und Technikphilosophie am Human Technology Center der RWTH Aachen – neuerdings auch die Güterindustrie interessiert: "In der Industrie 4.0 wird es künftig um die Kollaboration von Mensch und Maschine gehen. Genau diese Kollaboration existiert in Computerspielen von Beginn an. Die Industrie kann hier lernen, wie KI abseits reiner Automatisierungsvorstellungen vom Menschen her konzipiert werden kann."
Die Synergien in der Projektgruppe kommen nicht von ungefähr, sie resultieren aus dem intensiven Austausch und den eröffneten interdisziplinären Denkräumen. Ausgangspunkt war der erste Workshop der Gruppe im März 2019. "Er diente", so Rautzenberg, "vor allem dazu, eine gemeinsame Begrifflichkeit zu finden und unterschiedliche Denkweisen im Umgang mit KI einander anzunähern." Mathias Fuchs präzisiert: "Wenn Informatiker über KI sprechen, geht es meist um das Lösen eines bestimmten Problems, während KI aus der Sicht der Geisteswissenschaftler ein riesengroßes, kulturhistorisch gewachsenes Konstrukt ist." Ein weiteres Ergebnis des ersten Workshops war, dass beim Spiele-Design nicht die Maschinen, sondern die Nutzer im Zentrum des Interesses der Projektgruppe stehen sollten.
Beim nun dritten Workshop in Essen geht es schwerpunktmäßig um die industriellen Anwendungen der Spiele-KI. Zwischen Obst und Knabbereien liegen auf den Tischen im Raum KI-Bücher wie "Game Theory", "Kollaboration" und "Gaming Matters". Von einem Verständigungsproblem ist nichts zu spüren, der Austausch läuft flüssig, locker und angeregt. Die Technik- und Wissenschaftsphilosophin Gabriele Gramelsberger berichtet von der Konferenz "The Innovation Challenge: Bridging Research, Industry and Society" an der École Polytechnique in Paris, wo sie den "Mind the Game!"- Ansatz vorgestellt hat und auf großes Interesse aus Wirtschaft und Wissenschaft gestoßen ist.
Dass Hersteller KI-Anwendungen begrüßen, überrascht niemanden. Aber wer, so fragt man sich, hat bei der technischen Entwicklung auch die Folgen für die Menschen im Blick? Kay Bennemann, Business Development Manager bei Ubisoft, einem der weltweit größten Spieleproduzenten, ist sich ethischer Risiken in seiner Branche bewusst: "Spieler neigen dazu, sehr lebensnah und glaubwürdig handelnde KI-Agenten in Computerspielen allzu sehr zu vermenschlichen, was eine psychologisch prekäre emotionale Bindung an virtuelle Figuren hervorrufen kann." Deshalb würden Designer und Spieleentwickler die ethische Komponente zunehmend bereits bei der Implementierung und im Design berücksichtigen.
Spiele sollen ein Gefühl von Kontrolle vermitteln
Die KI-Werkzeuge der Spieleprogrammierer sind meist dem Gehirn nachempfundene künstliche neuronale Netze, die mit Daten trainiert werden. 2016 besiegte ein von der Londoner Google-Tochter "Deep Mind" mit 160.000 Meisterpartien trainiertes neuronales Netz namens AlphaGo den amtierenden Weltmeister im komplizierten japanischen Brettspiel Go. "Solche Höchstleistungen sind zwar technologisch interessant", sagt Kay Bennemann, "haben für die kommerzielle Spiele-Produktion jedoch wenig Relevanz. Denn solche übermenschlich starken Spiele wären nur schwer zu vermarkten. Spiele sollen unterhalten und ein Gefühl von Kontrolle vermitteln. Spieler sollen Probleme überwinden können, wofür sie mit Erfolgserlebnissen belohnt werden. Dafür müssen wir die technisch mögliche Leistung der KI sogar abschwächen. Unsere Systeme sind sozusagen humanisiert und teils mit Fehlern aufgeladen, damit sie sich glaubwürdiger verhalten."
Lange noch diskutieren die Projektbeteiligten von "Mind the Game!" bei ihrem Workshop in Essen. Die Bewerbung für den Full Grant will sorgfältig vorbereitet werden. Unstrittig ist aber längst, dass das interdisziplinäre Zusammenwirken neue, auch unerwartete Perspektiven eröffnen kann. Bis hin zur Etablierung bislang unbekannter Berufe, über die man im Projekt auch schon diskutiert hat: "Aus Innovationsdruck müssen Programmierer, Spieledesigner, Künstler und Partner aus den Geistes- und Sozialwissenschaften künftig noch stärker aufeinander zugehen", sagt Philosoph Rautzenberg. "So können neue Berufsbilder entstehen: in der Übergangszone zwischen dem mathematisch-informatischen und dem gestalterischen Bereich."