Sammlungsgeschichte gehört erschlossen
Das Übersee-Museum Bremen und die Universität Hamburg forschen gemeinsam an Herkunft und Legitimität von Afrika-Exponaten. Dabei spielen die Analyse der Sammlungen, Sammlerbiografien und Recherchen in ehemaligen deutschen Kolonien eine entscheidende Rolle.
Provenienzforschung ist für Museen zu einem wichtigen Thema geworden: Was für Objekte sind auf welche Weise in die Sammlungen gelangt? Die Frage wird besonders relevant, wenn es sich um einen Erwerb aus Zeiten handelt, in denen Unterdrückungssysteme in den Herkunftsstaaten an Legalität, Ethik oder Legitimität von Besitzerwechseln zweifeln lassen. In ethnologischen Museen betrifft die Frage nach der Provenienz von Objekten vor allem jene Sammlungsbestände, die in ehemaligen Kolonien zusammengetragen wurden.
Dabei geht es um einen angemessenen zeitgenössischen Umgang mit Partnerinnen und Partnern in den jeweiligen Herkunftsländern, aber auch um ein Erforschen der eigenen Institutionsgeschichte sowie um museale Repräsentationskonzepte generell.
Neue Sichtweisen auf Kolonialismus entwickeln
Vor diesem Hintergrund wirft das Übersee-Museum Bremen im Rahmen einer Forschungskooperation einen differenzierten Blick auf seine Afrika-Sammlungen aus ehemaligen deutschen Kolonien. Am Historischen Seminar der Universität Hamburg forschen unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zimmerer forschen zwei Doktoranden und ein Postdoktorand des Arbeitsbereichs Globalgeschichte zu Objekten aus dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und heutigen Namibia (Christian Jarling), aus Kamerun (Ndzodo Awono) und aus dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, in dessen Gebiet heute die Staaten Tansania, Burundi und Ruanda liegen (Dr. des. Patrick Hege).
"Davon erhoffen wir uns auch generelle Antworten", betont Prof. Dr. Wiebke Ahrndt, die die Nachwuchsforscher als Direktorin des Übersee-Museums betreut. "Das Erforschen kolonialen Sammelns hat grundsätzliche Auswirkungen auf unser Verständnis davon, was Kolonialismus bedeutet und wie wir mit seinem Erbe umgehen", ergänzt Prof. Dr. Zimmerer.
Perspektiven auf die Vergangenheit und für die Zukunft
"Im Rahmen des geförderten Projekts ist es uns möglich, durch Feldforschung afrikanische Perspektiven mit einzubeziehen", erläutert Wiebke Ahrndt. Zwar werde Provenienzforschung in ethnologischen Museen bereits seit den Siebzigerjahren betrieben. Neu sei jedoch seit einiger Zeit die kritische Herangehensweise, das Sammlungsgut nicht nur als koloniales Erbe zu betrachten, sondern es mit einem stärkeren Fokus auf der Sichtweise der Herkunftsgesellschaften zu erschließen. Das wirke auch in Ausstellungskonzeptionen und Vermittlungsarbeit hinein.
"Unsere Verantwortung betrifft nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch die Gestaltung der Zukunft", meint Ahrndt. Und Nachwuchswissenschaftler Christian Jarling wirft die Frage auf: "Welche Konsequenzen können wir aus unseren neu gewonnenen Einsichten über die Sammlungen ziehen?"
Personen in den Fokus rücken
"Provenienzforschung war in der Vergangenheit meist auf gut dokumentierte Sammlungen konzentriert", erläutert Direktorin Ahrndt. In allen anderen Fällen gelangte dieser Weg oft an ein schnelles Ende, wenn Namen in den Eingangsbüchern unbekannt waren und in den Aktenarchiven nichts zu finden war: "Man legte die entsprechenden Objekte dann wieder zurück und arbeitete damit weiter als Kulturgut, aber eben nicht als historische Quelle." Heute setzen die Forscherinnen und Forscher darauf, Kontexte des Sammlungserwerbs genauer zu untersuchen – vor allem das Handeln der beteiligten Personen, wobei neben Sammlerinnen und Sammlern, den Händlerinnen und Händlern auch die Akteurinnen und Akteure in den Herkunftsgesellschaften in den Blick genommen werden.
Bereits die eigene Suche nach Kommunikations- und Kooperationspartnerinnen und -partnern zeigt dabei, wie heterogen die Zusammenhänge sich oft gestalten. "Erschwerend kommt hinzu, dass die Einteilung in klar differenzierte Ethnien meist von den Kolonialmächten stammt", gibt Jarling zu bedenken.
Quellen und ihre Verstrickungen
Die Suche nach verlässlichen Quellen vor Ort sei oft schwierig, erklärt Jarling: "Gerade die Bremer Sammlungen aus Namibia sind durch die Sammlerinnen und Sammler sehr schlecht dokumentiert worden. Dass dort auf die deutsche Kolonialzeit 70 Jahre Besatzung und Apartheitssystem folgten, macht die Forschung nicht leichter." Da keine Zeitzeugen mehr leben, seien alle Geschichten kolportiert. Doch selbst schriftliche Quellen seien nur so objektiv wie ihre Autorinnen und Autoren, oft Kolonialbeamtinnen und -beamte oder Militärangehörige.
Meist seien Sammlerinnen und Sammler im Kolonialapparat verstrickt gewesen. "Wir müssen interpretieren und kontextualisieren", so Jarling. Dabei helfe es einerseits, Spuren von Sammlerinnen und Sammlern durch die Geschichte verschiedener Museen zu verfolgen. Andererseits gehe es auch darum, die jüngeren Generationen in den Herkunftsländern zu informieren: "Viele wissen nicht, in welchem Umfang sich Sammlungen in Europa befinden."
Provenienz als politisches Thema
Zu mehr Transparenz ruft auch die französische Kulturhistorikerin Prof. Dr. Bénédicte Savoy auf, die gemeinsam mit dem senegalesischen Ökonom Prof. Dr. Felwine Sarr im Auftrag von Staatspräsident Emmanuel Macron die Möglichkeit der Rückgabe von Kulturgütern untersuchte – wie auch der "Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten" des Deutschen Museumsbundes. Der im Mai 2018 in erster Fassung erschienene Leitfaden stimmt in wesentlichen Punkten mit einer Stellungnahme überein, die Monika Grütters als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und Michelle Müntefering als Staatsministerin für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im Dezember 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten. Darin fordern diese: "Differenzierung und Klärung der Provenienzen müssen sein, es darf aber nicht der Eindruck einer Verzögerungstaktik entstehen." Das Auswärtige Amt plant zurzeit eine Agentur für Internationale Museumszusammenarbeit, die sich mit Infrastrukturmaßnahmen beschäftigen soll, aber auch mit Forschungs- und Ausstellungskooperationen.
Mahnung zu Sorgfalt und Dialog
"Ich hoffe, diese Agentur wird leistungsfähig ausgestattet", sagt Direktorin Wiebke Ahrndt. Es gehe nämlich um mehr als um Rückgabe. "Natürlich brauchen wir die grundsätzliche Bereitschaft, Dinge zurückzugeben", betont sie. Ebenso wichtig sei jedoch Dialogbereitschaft: "Forschung darf nicht auf Zeit spielen, aber sie braucht eben auch Zeit: Hier an diesem speziellen Forschungsprojekt sitzen drei Menschen drei Jahre lang und finden beileibe nicht alle notwendigen Antworten." Inzwischen seien Museen durchaus bereit, Exponate zurückzugeben.
Auf Seiten der Herkunftsstaaten brauche es aber in der Regel auch Zeit, um zu entscheiden, ob etwas zurückgefordert werden soll – und um im Fall von Rückgaben Lösungen für den weiteren Umgang zu finden. Es gehe eben auch um Sorgfalt. "Wir können Dinge nur einmal zurückgeben", erinnert Ahrndt und mahnt: "Den Wunsch nach Schnelligkeit seitens Öffentlichkeit, Medien und Politik kann ich gut verstehen. Das Tempo sollten jedoch vor allem die Herkunftsgesellschaften bestimmen."
Zuhören und dann anders erzählen
Für Ahrndt bedeutet Verantwortung zunächst auch Wissen: "Museen müssen die Modalitäten des Erwerbs bekannt sein." Wenn es sich dann tatsächlich um Fälle handle, in denen es rechtlich und/oder ethisch aus Sicht des Museums nicht vertretbar sei, dass Objekte länger in der Sammlung verbleiben, müsse das Gespräch gesucht werden.
Es sei wichtig, hierbei auch über die Zukunft zu sprechen. Oft gehe es nicht oder nicht allein um Rückgabe, sondern zum Beispiel um Kooperationen. "Herkunftsländer im Südpazifik wünschen sich dann beispielsweise, dass wir in europäischen Ausstellungen von Klimawandel und Existenzbedrohung erzählen sollen", berichtet Ahrndt. Die Ertüchtigung von Museumsgebäuden vor Ort, um sie vor Naturkatastrophen zu schützen, könne dann ein möglicher zweiter Schritt sein.
Dialoge langfristig führen
Der Nachwuchsforscher Christian Jarling wünscht sich ein Bewusstsein für heutige Ungleichheiten: "Ich habe durch unser Projekt Mittel, nach Namibia zu fliegen und Interviews zu führen, die meisten Namibier könnten das umgekehrt nicht bezahlen und würden vielleicht nicht einmal ein Visum erhalten." Er weist zudem auf Strukturen in den Herkunftsländern hin. Nicht immer werden alle Interessengruppen dort durch Museen oder staatliche Stellen vertreten. Und auch die gelte es, nicht zu überfordern.
Die Museums Association of Namibia kümmere sich zum Beispiel um Kooperationen und habe bereits viele Gespräche geführt. Nun erhalte sie immer mehr Anfragen von deutschen Museen. "Die sind da aber nur zu dritt und schaffen das kaum", berichtet Jarling. Und natürlich träfen manches Mal unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Er setzt auf einen Prozess: "Wir müssen den Dialog langfristig führen und uns so Stück für Stück aufeinander zu bewegen." Auch durch eine schnelle Rückgabe sei die Kolonialgeschichte nicht aus der Welt.
Handlungsspielräume in Unrechtssystemen
Gerade in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung sei es wichtig, genau hinzusehen, betont Ahrndt: "Auch in einem generellen Unrechtssystem waren nicht alle Nicht-Europäer zu jeder Zeit Opfer." Ein Tausch auf einem Markt könne ein legitimer Handel gewesen sein – bei Androhung von Gewalt jedoch eine Zwangssituation.
Es gehe letztlich um Handlungsspielräume. "Alle afrikanischen Bewohner der vier Kolonien hatten traumatische Erlebnisse durch Unterdrückung, Ausbeutung und Fremdbestimmung", so Ahrndt. Dennoch habe sie bei einer Betrachtung der Sammlungsbestände den Eindruck gewonnen, dass europäische Händlerinnen und Händler sowie Sammlerinnen und Sammler nicht immer am längeren Hebel saßen: "Dann hätten wir vermutlich deutlich mehr Prestigeobjekte in den Sammlungen." Oft seien Sammlerinnen und Sammler wohl auch über die kulturelle Bedeutung von Objekten getäuscht worden.
Selbstvergewisserung durch Forschung in Museen
Jarling gibt zu bedenken, dass manche Sammlung möglicherweise das Kulturgut einer Gesellschaft gar nicht angemessen abbilde, weil sich Sammlerinnen und Sammler zu sehr auf traditionelle Objekte fokussierten: "Wir wissen, dass die Herero in Namibia spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts über Gewehre verfügten, diese finden sich jedoch nicht in unserer Sammlung." Manche Objekte seien vielleicht auch gezielt für den Handel hergestellt worden. Und schließlich seien Kategorien, nach denen gesammelt wurde, oft auch kolonialistische oder rassistische Konstruktionen.
"Ohne den Kolonialismus hätte es wohl keinen Sammelrausch gegeben", sagt Ahrndt. Gesammelt hätten die Museen wohl dennoch: "Der Gedanke des Bewahrens materiellen Kulturerbes ist etwas sehr Europäisches." Umso wichtiger erscheint eine fundierte Selbstvergewisserung durch Forschung in Museen. "Dass diese vielerorts überhaupt wieder möglich geworden ist, verdanken wir der Initiative der VolkswagenStiftung", resümiert Ahrndt.