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So steht es um die Wissenschaftsfreiheit

Autor:innen: Katrin Kinzelbach und Lars Pelke

Karte der Welt

Wissenschaftsfreiheit ist eine der zentralen Voraussetzungen für wissenschaftliche Erkenntnis und gute Lehre. Die meisten Länder der Welt, 171 an der Zahl, haben sich im Rahmen des UN-Sozialpakts dazu verpflichtet, die Freiheit der Forschung als universelles Menschenrecht zu achten. Doch wie sieht es mit der De-facto-Realisierung von Wissenschaftsfreiheit aus?

Mit dem Academic Freedom Index (AFI), der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angesiedelt ist und die Daten in Kooperation mit dem Varieties of Democracy Institute (V-Dem) in Göteborg erhebt, können Wissenschaftler:innen und die Öffentlichkeit systematisch die Realisierung von Wissenschaftsfreiheit länderbezogen und im Verlauf der Zeit – ab 1900 – vergleichend beobachten. Damit liefert der AFI den umfangreichsten Datensatz zum Thema. Das Projekt misst fünf Einzelindikatoren (Freiheit der Forschung und Lehre; Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation; Institutionelle Autonomie; Campus-Integrität sowie die akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit), welche durch solide statistische Verfahren zum Index aggregiert werden. Wissenschaftsfreiheit wird verstanden als die De-facto-Realisierung dieser fünf Dimensionen. Der Academic Freedom Index ist dabei zwischen 0 (weitgehend unfrei) und 1 (guter Schutz) skaliert.

Karte der Welt

Die Farben zeigen den jeweiligen Grad der Wissenschaftsfreiheit eines Landes an. (Grafik: Karte auf der Basis des V-Dem Datensatzes; L. Pelke, FAU/Bureau Bordeaux)

19 Verlierer:innen

Im Zeitraum vom 2011 bis 2021 zeigen die aktuellen AFI-Daten einen substantiellen Rückgang der Wissenschaftsfreiheit in 19 Ländern und Territorien, darunter in Hongkong, Indien, Polen, Russland, Ungarn, den USA und Großbritannien. Diese Fälle haben gemein, dass sie im angegebenen Zeitraum mindestens 0,1 Punkte auf dem AFI verloren haben, wenngleich das Ausgangsniveau 2011 und auch der heutige Schutz von Wissenschaftsfreiheit variieren. In den 19 Verliererländern und -Territorien leben 37 % der Weltbevölkerung. Während 2020 noch 21,33 % der Weltbevölkerung in Ländern mit gut realisierter Wissenschaftsfreiheit (AFI >= 0,8) lebten, waren es 2021 nur noch 13,95 % der Weltbevölkerung.

Das AFI-Team legt bei der Identifikation von Verschlechterungen einen strengen Maßstab an (Schwellenwert von mindestens 0,1 und keine Überlappung der Unsicherheitsintervalle). China, Venezuela, Kolumbien und Tansania verpassen diese Kriterien nur knapp – sprich, auch in diesen Ländern gibt es ernstzunehmende Anzeichen für eine Verschlechterung zwischen 2011 und 2021.

Autokratisierungstendenzen

Inwiefern Autokratisierungsprozesse Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit kausal verursachen oder systematische Einschränkungen der Freiheit in Forschung und Lehre Vorboten von Autokratisierungstendenzen sind, ist Gegenstand weiterer Forschung. Festzustellen ist, dass in den 45 Ländern, die zwischen 2011 und 2021 mindestens eine Autokratisierungsepisode aufzuweisen haben, auch das mittlere Niveau der Wissenschaftsfreiheit von 0,67 in 2011 auf 0,57 in 2021 abgesunken ist. Ob verfassungsrechtliche Garantien (de jure) und gelebte Wissenschaftsfreiheit (de facto) den Rückbau der Demokratie erschweren können, hängt sicherlich davon ab, welche konkreten Möglichkeiten gewählte Regierungschefs mit autoritären Ambitionen haben, in das Wissenschaftssystem einzugreifen.

Tabelle Rückgang der Wissenschaftsfreiheit

In 19 Ländern ist die Wissenschaftsfreiheit zurückgegangen.

Neben möglichen Demokratiepräferenzen der Forschenden und Studierenden (Dahlum und Wig 2021) spielt vermutlich der Grad der Zentralisierung der Hochschulpolitik eine Rolle. So ist in Polen, Ungarn und der Türkei die Hochschulpolitik zentral gesteuert, während in Brasilien Hochschulpolitik sowohl vom Zentralstaat als auch von den Bundesstaaten und Kommunen gemacht wird. Wenn gewählte Regierungschefs zentral in die Hochschulpolitik eingreifen und die institutionelle Autonomie der Hochschulen sowie die individuelle Freiheit von Forschung und Lehre beschränken können, wird es für die Wissenschaft schwer, dem Demokratieverlust entgegenzuwirken.

Wissenschaftsfreiheit und Demokratienkrise

Der Rückgang der Wissenschaftsfreiheit verläuft parallel mit einer substantiellen Krise der Demokratie. Betrug das mittlere Demokratieniveau der 19 Verlierer anhand von V-Dem Demokratiedaten im Jahr 2011 noch 0,52 (auf einer Skala von 0-1), so ist deren mittleres Demokratieniveau inzwischen auf 0,37 abgesunken. 2011 waren unter den 19 Verlierern drei Länder liberale Demokratien, 2021 sind es noch zwei (USA, Großbritannien). Polen, 2011 noch eine liberale Demokratie, gilt 2021 nach den V-Dem Kriterien als elektorale Demokratie (Länder, die freie und faire Wahlen abhalten aber die Kriterien einer liberalen Demokratie nicht erfüllen). In drei Verliererländern (Türkei, Indien, und Ungarn) ist die Demokratie nach den Kriterien und Daten von V-Dem zwischen 2011 und 2021 zusammengebrochen. Diese Länder gelten nun als elektorale Autokratien, in denen zwar Wahlen abgehalten werden, die aber die Minimalerfordernisse freier und fairer Wahlen nicht mehr erfüllen. Auch elektorale Autokratien haben sich im Betrachtungszeitraum weiter autokratisiert.

Über die Autor:innen und das Projekt

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach und Dr. Lars Pelke forschen am Institut für Politische Wissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg. Das gemeinsam mit dem V-Dem Institut an der Universität Göteborg realisierte Langzeitprojekt "Academic Freedom Index: An Innovative Resource for Research and for Protecting Freedom in the Academic Sector" wird seit 2021 von der Stiftung für fünf Jahre gefördert.

Magazincover "Impulse"

Das Magazin Impulse

Diesen Beitrag finden Sie auch in unserem Stiftungsmagazin "Impulse". Unter dem Titel "Was soll ich? Was darf ich?" stellt das Heft in seiner aktuellen Ausgabe die Frage nach Verantwortung und ethischer Orientierung in der Wissenschaft. 

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