Subsahara-Afrika Initiative: Menschen und Klänge vor dem Vergessen bewahren
#InternationalesLizabé Lambrechts erforscht südafrikanische Popmusik aus der Zeit der Apartheid.
Vor gut zehn Jahren, 2012, bekam Lizabé Lambrechts den Schlüssel zu einem gigantischen Musikarchiv quasi in die Hände gedrückt. Damals promovierte die Südafrikanerin zu einer privaten Sammlung, dem sogenannten "Hidden Years Music Archive" von David Marks. Der Songwriter und Musikproduzent hatte seit Mitte der 1960er Jahre alles an südafrikanischen Schallplatten, Tonaufnahmen und Material gesammelt, was ihm in die Hände fiel. Darunter auch seine Aufzeichnungen der "Free Peoples Concerts", die er und einige Studentenorganisationen trotz Einschränkungen durch die Apartheids-Regierung in den 1970er und -80er Jahren organisiert hatten.
Seine Unterlagen bot Marks der jungen Doktorandin mit dem Ziel an, daraus endlich ein richtiges Archiv zu machen. "Dieser Moment hat meine gesamte wissenschaftliche Karriere bestimmt", sagt die heute 38-Jährige. Und fügt hinzu, dass eine Karriere im Fachbereich Musik in Südafrika nur wenigen Wissenschaftler:innen vergönnt sei.
Lizabé Lambrechts hatte eigentlich Künstlerin werden wollen. Sie studierte Musik und Darstellende Künste, wechselte aber, "weil das nicht so richtig passte", im vierten Studienjahr in die Musikwissenschaft. Dass sie nach ihrem Master für eineinhalb Jahre nach Paris ging, um dort an zwei Gymnasien Englisch zu unterrichten, war ein Einschnitt und führte zu "zahlreichen anregenden Erfahrungen mit Museen, Archiven und Kulturerbe". Mit solchen Einrichtungen habe Bloemfontein, die Hauptstadt der südafrikanischen Provinz Freistaat, in der sie aufwuchs, nur begrenzt aufwarten können.
Zurück in Südafrika schrieb sie sich an der Universität Stellenbosch für eine Promotion zum Thema Musikarchive, Musikgeschichte und Kulturerbe ein. "Das brachte mich auf den richtigen Weg", erzählt Lambrechts. Von der praktischen Arbeit im Archiv habe sie damals noch keine Ahnung gehabt, aber sie konnte sich nicht nur mit Konzepten und Theorien, sondern auch mit den vielen Musiker:innen der Sammlung und ihren Lebensgeschichten beschäftigen. "Das war ein großes Privileg."
"Buchstäblich an dem Tag, an dem ich meinen Doktortitel erhielt, rief David Marks mich an: 'Lizabé, ich brauche einen Ort für mein Archiv.'" Die Sammlung umfasste rund sieben Tonnen Material: 7.000 Langspielplatten, 3.000 Bandspulen und 4.000 Kassetten, mehr als 50.000 Fotografien und 600 Kisten voller Plakate und Broschüren, Tagebücher und Zeitungsberichte. Das Material stammte überwiegend von Marks Arbeit in der alternativen Musikszene aus Südafrika und angrenzenden Ländern wie Malawi, Lesotho und Zimbabwe, wodurch eine vielseitige Sammlung von Pop, Rock, Folk und traditioneller Jazz-Musik entstand. "Es waren nicht unbedingt Musiker, die explizit Protestlieder gegen das Apartheidsregime schrieben oder die ihren Mund nicht aufkriegten. Sie trafen sich einfach, um jenseits von Rasse- und Klassebegriffen zusammen zu musizieren", erzählt Lambrechts.
Auch afroamerikanische Musiker:innen kamen in dieser Zeit nach Südafrika und durchbrachen damit den kulturellen Boykott. David Marks war bei vielen dieser Tourneen für den Ton zuständig und nahm die Konzerte von Musiker:innen wie Brooke Benton, Percy Sledge und Isaac Hayes auf. Obwohl viele der Konzerte eine große Anzahl Menschen anzogen, seien die Künstler:innen heute online kaum zu finden. Um das musikalische Erbe zu bewahren, gab Stephanus Muller, Professor in Stellenbosch, Lizabé Lambrechts eine zweijährige Postdoc-Stelle. Sie sollte das Archiv an das "Africa Open Institute für Musik, Forschung und Innovation" holen und erschließen. Weil angesichts des Umfangs zwei Jahre viel zu kurz waren, sei das Förderangebot der VolkswagenStiftung genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen: "Ende 2014, als mir das Potential des Archivs längst klar war, wurde ich im Internet auf das Förderprogramm 'Initiative Wissen für morgen' aufmerksam."
Lambrechts hatte mit ihrem Antrag zum Thema "Music and Memory: Discovering the Postapartheid through Popular Music Archives" Erfolg und bekam ein Junior Fellowship. Die drei Jahre nutzte sie, um zunächst das Tonmaterial und die Dokumente zu sortieren, dann zu digitalisieren und für die Nutzung durch Student:innen sowie Forschende bereitzustellen. "Der Höhepunkt war, dass ich mit Hilfe der Förderung ein Jahr lang in Durban leben konnte, um durch enge Zusammenarbeit mit David Marks das Archiv aus erster Hand kennenzulernen und es zu digitalisieren", sagt die Musikwissenschaftlerin. Das Archiv konnte adäquat ausgestattet werden, und es wurden Studierende und freiwillige Unterstützer eingearbeitet. "Wir konnten dadurch eine Ressource sichern, die lange Zeit genutzt werden wird."
In der zweiten Förderphase, nach der erfolgreichen Bewerbung um ein Senior Fellowship, forschte Lizabé Lambrechts zu den "Free Peoples Concerts", die zwischen 1970 und '91 stattfanden. Dabei habe sie ihre wissenschaftliche Karriere weiter ausbauen können und sei mittlerweile durch ihre Ernennung zur außerordentlichen Professorin an der Universität Stellenbosch mit weiteren Archiven im subsaharischen Afrika vernetzt. "Dank der Fördermittel konnte ich Workshops und Veranstaltungen organisieren, Forschende verschiedener Disziplinen in das Archiv einladen und mich mit ihnen austauschen." Ihre beiden Mentorinnen, Prof. Angela Impey von der University of London und Dr. Janet Topp Fargion von der British Library, hätten sie zudem in ein großes Netzwerk aus Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen eingeführt.
Eines ist Lizabé Lambrechts trotz allem nicht gelungen: Eine feste Stelle an einer Universität zu bekommen. Zum einen würden in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit Mittel gekürzt und frei werdende Stellen häufig nicht wieder besetzt. Zum anderen arbeite sie sehr interdisziplinär: "Ich bewege mich zwischen Musik, Kulturerbe und Sprachen, Geschichte und Kunst." Stiftung würden diese Art zu forschen unterstützen, universitäre Positionen seien dagegen häufig noch disziplinär gebunden.
Seit mehr als zehn Jahren hält Lizabé Lambrechts den Schlüssel zum Archiv in ihren Händen. Sie freut sich, dass es von so vielen Seiten genutzt wird. Es sind vor allem Historiker:innen, aber auch Soziolog:innen und Musikwissenschaftler:innen, die an die Tür klopfen. Oftmals kommen auch DJs und Klanghistoriker:innen und hören sich die Musik an. In Südafrika gibt es eine Bewegung unter jungen Menschen, die die bisher unbekannte Musik wiederentdecken wollen - und das damit verbundene kulturelle Bewusstsein. Das Archiv leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
In Bezug auf ihre eigene Entwicklung ist sie der Meinung, dass die Förderung viel bewirkt hat: "Sie hat mir Möglichkeiten und Chancen eröffnet, zu denen ich nie Zugang gehabt hätte, und mir erlaubt, in meine Gemeinschaft von Menschen aus der Praxis und in die Laufbahn von Studierenden zu investieren. Diese Arbeit hat mein Selbstvertrauen gestärkt, und ich bin froh, mein Wissen an andere weitergeben zu können." Gerne würde Lambrechts ihre Forschungsergebnisse aber auch der europäischen, insbesondere der deutschen Öffentlichkeit bekannt machen. Sie ist der Meinung: "Es gibt auf dem afrikanischen Kontinent aktuell viele Innovationen, die eine größere Aufmerksamkeit verdienen."
Für die Zukunft hofft Lizabé Lambrechts, dass die weiter anwachsenden Bestände des Archivs gesichert werden können, denn es besteht Gefahr, dass die in die Jahre gekommenen Tonbandaufnahmen nicht optimal gelagert werden können und Teile des dokumentierten Materials verfallen. Obwohl das Meiste bereits digitalisiert wurde, gibt es noch viel zu tun. Auch hinsichtlich der langfristigen Entwicklung setzt die vielseitige Musikwissenschaftlerin auf Synergien durch Vernetzung: Gemeinsam mit schwedischen, brasilianischen und südafrikanischen Forschenden untersucht sie in einem Projekt mit dem Titel "Decay without mourning: Future-thinking heritage practices" wie sich Kulturgüter verändern und welche Chancen sich daraus ergeben, Archiv-, Museums- und Kulturerbepraktiken aus aller Welt zu vergleichen und einzusetzen. Das Projekt wird in einer gemeinsamen Initiative zu "Erbe und Wandel" von der Compagnia di San Paolo, dem Riksbankens Jubileumsfond und der VolkswagenStiftung gefördert.