Unterwegs ins bessere Leben
Migration hat viele vernachlässigte Geschichten: Die Anthropologin Meron Zeleke Eresso richtet den Blick auf die Welt äthiopischer Transitmigrantinnen am Horn von Afrika.
Ahriba, ein Slum in der Hafenstadt Dschibuti am Horn von Afrika. Das Viertel gleicht einem Meer aus Wellblechhütten und Pappverschlägen – und ist das temporäre Zuhause tausender Migrantinnen und Migranten, die von Äthiopien über Dschibuti ihren Weg in die Golfstaaten suchen. Die Wissenschaftlerin Meron Zeleke Eresso hat hier ein kleines Zimmer gemietet. Auf 12 Quadratmetern lebt sie mit fünf Frauen, alle aus Äthiopien, alle auf dem Weg in ein neues Leben jenseits der Heimat. Geschlafen wird auf Matratzen auf dem Boden, gekocht auf einem kleinen Kohleöfchen.
Besonders wichtig ist das gemeinsame Kaffeetrinken. Wenn die Frauen beisammensitzen und ihren äthiopischen Kaffee aufbrühen, kommen die Geschichten hoch. Eine Frau hat ihr neugeborenes Baby zurückgelassen. Eine andere hat eine chronische Nierenkrankheit. Und trotzdem: Der Wunsch, ihre Familien zu unterstützen, ist so stark, dass sie auf ihr eigenes Wohl keine Rücksicht nehmen. Das Nachbarland Dschibuti ist zwar klein, aber aufgrund seiner Lage am Golf von Aden das Tor zur Weiterreise in die Golfstaaten. Rund 3500 Migranten durchqueren Dschibuti jeden Monat. 80 Prozent kommen aus Äthiopien. Ein großer Teil davon sind Frauen.
Vertrauen durch Gemeinsamkeit
Für Meron Zeleke Eresso sind die täglichen Kaffeerunden mit ihren Mitbewohnerinnen nicht nur eine Herzensangelegenheit, sondern ein wesentlicher Bestandteil ihrer Feldforschung. Die Frauen vertrauen ihr, denn sie haben vieles gemeinsam. Auch Eresso ist Äthiopierin, dreifache Mutter und in derselben Welt aufgewachsen, in der die Idee vom Leben jenseits der Heimat so allgegenwärtig ist. In Äthiopien hat jeder dritte Haushalt seine Migrationsgeschichte. So auch Eressos Familie: Ihre Tanten arbeiteten viele Jahre in den Golfstaaten. Ihr sind die Geschichten vom Gehen seit ihrer Kindheit vertraut. "Wenn man jung ist, stellt man die Dinge nicht in Frage, man nimmt sie einfach hin wie sie sind", sagt die Wissenschaftlerin. "Ich wollte das Phänomen aber in seiner Tiefe verstehen, deshalb forsche ich über Migration."
Meron Zeleke Eresso (36) ist eine empathische Anthropologin mit ausgeprägtem Sinn für gesellschaftliche Zusammenhänge. Nachdem sie im Rahmen der Förderinitiative "Wissen für Morgen" als Junior Fellow über die Zusammenhänge zwischen Religion und Konflikt forschte, wollte sie im Rahmen ihres Senior Fellowships einen Beitrag dazu leisten, das Phänomen der Migration in ihrem Land besser zu verstehen. "Das Thema hat große gesellschaftliche Relevanz", sagt sie. "Wir erleben es in Äthiopien jeden Tag hautnah, auch die Medien sind voll von diesen Geschichten." Die Bilder haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt: Das Video der Ermordung von 28 äthiopischen Transitmigranten durch den IS in Libyen im April 2015. Die Bilder der toten Körper migrierter Äthiopier, die im Februar 2016 in der Wüste Dschibuti gefunden wurden. 2014 die Massenabschiebung von 160.000 äthiopischen Frauen aus Saudi Arabien, die mit Vergewaltigungen und Misshandlungen einherging. Es gibt kaum jemanden in Äthiopien, der diese Ereignisse nicht kennt – und nicht viele, die keine Betroffenen kennen.
Mehr als nur Opfer
Trotz der Allgegenwärtigkeit des Themas Migration klafft für Eresso eine große Lücke in der medialen und wissenschaftlichen Darstellung des Phänomens. Zu wenig geht es um die Frauen, zu viel um den Migrationsfluss Richtung Europa.
In ihrem genderorientierten Ansatz, der mit dem lokalen Schwerpunkt der Route über Dschibuti in die Golfstaaten bewusst einen Gegenpunkt zur europazentrierten Darstellung von Migrationsbestrebungen setzt, geht es Eresso vor allem um diese Fragen: Was treibt die jungen Frauen an? Wo kommen sie her? Was sind ihre Pläne und Strategien, um das neue Leben zu erreichen? "Migrationsgeschichten werden meist im Duktus erzählt, der die Migrantinnen zu Opfern der Umstände macht", sagt sie. "Doch dies macht uns blind für alles andere, was diese Menschen und ihre Lebenswelt ausmacht: ihren starken Willen, ihr Kalkül, ihre Handlungsmöglichkeiten. Ich möchte eine andere Perspektive einnehmen und die Frauen als selbstbestimmte Menschen darstellen, die eine Geschichte haben und die ihren eigenen Plan verfolgen."
Um diesem Ansatz gerecht zu werden, verbrachte Eresso nicht nur mehrere Monate mit den Frauen in Dschibuti, sondern recherchierte auch bei ihren Familien in den Heimatdörfern - als dreifache Mutter eine organisatorische und logistische Herausforderung für die junge Wissenschaftlerin. Ihre aufwendige Recherche konnte sie auch deshalb umsetzen, weil die Förderbedingungen der Stiftung es ihr erlaubten, einen Teil des Projektbudgets für eine Kinderbetreuung auszugeben. "Ohne diese Möglichkeit hätte es nicht funktioniert", sagt sie. "Ich hätte meine Kinder nicht mit ins Feld nehmen können, das wäre viel zu riskant gewesen."
Die Früchte der Vernetzung
Auch schon zuvor hat ihr die Förderung in der Afrika-Initiative Türen geöffnet. Nach ihrem Master in Social Anthropology an der Universität Addis Abeba, war Eresso nach Deutschland gegangen und hatte an der Universität Bayreuth ihren Doktor gemacht. "Als ich danach nach Äthiopien zurückkehrte, ging ich ins Ungewisse. Ich war dort nicht vernetzt und hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte." Das eingeworbene Fellowship erleichterte es ihr dann, in den wissenschaftlichen Strukturen in ihrer Heimat Fuß zu fassen. Als Stipendiatin brachte die junge Anthropologin ihr eigenes Geld mit, um ihr Forschungsvorhaben umzusetzen, und auch ihre internationale Vernetzung war willkommen.
Die positiven Effekte auf ihre Karriere sind inzwischen erfreulich deutlich: 2018 wurde sie als Associate Professor ans Centre for Human Rights an der Universität Addis Abeba berufen – in Äthiopien ein Riesenerfolg für eine Wissenschaftlerin in ihrem Alter. Und sie wurde von der Afrikanischen Union als Migrationsexpertin konsultiert. "Die Sichtbarkeit, die ich durch die Möglichkeit der internationalen Vernetzung im Rahmen des Fellowships bekommen habe, hat mir sehr geholfen, mich wissenschaftlich zu etablieren" sagt Meron Zeleke Eresso. "Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich Teil der Afrika-Initiative sein durfte und diese Unterstützung erfahren habe."
Mit ihrer erneut erfolgreichen Bewerbung um eine zweijährige Verlängerung des Senior Fellowships zur Vertiefung ihrer Migrationsforschung hat die Wissenschaftlerin den optimalen Weg durch dieses – auch auf Capacity Building ausgerichtete – Förderangebot der Stiftung genommen. Und der gemeinsame Weg ist damit nicht zu Ende: Einen weiteren Höhepunkt der Erfolgsgeschichte bildet nun ein großes Forschungsprojekt zum Thema soziale Ungleichheit, das Meron Zeleke Eresso gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Ländern in der Stiftungsinitiative "Global Issues – Integrating different Perspectives on Social Inequality" bearbeitet.