Geöffnet Konfigurationseinstellungen Bologna and the Move Towards a European Higher Education Area: The Surprising Success of an Educational Vision?
20 Jahre danach – eine Bilanz. Bericht zur Veranstaltung "Bologna and the move towards a European higher education area" am 25. und 26. April 2019 in Hannover.
Bachelor und Master als Studienabschlüsse haben sich im europäischen Hochschul-raum durchgesetzt, und auch hinsichtlich etlicher anderer Herausforderungen, die mit dem vor zwanzig Jahren gestarteten Bologna-Reformprozess verfolgt wurden und teils noch werden, sei Europa auf einem guten Weg – auch wenn bei jedem der inzwischen 48 sich am Prozess beteiligenden Länder der Stand der Umsetzung ein anderer ist. Auf dieses Fazit konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ende April 2019 in Hannover stattfindenden Tagung "Bologna and the move towards a European higher education area" verständigen – zumal auch einige weitere der vor zwei Jahrzehnten avisierten Ziele und Herausforderungen mittlerweile in vielen Ländern umgesetzt und mithin als Standard in Europas Hochschul- und Wissenschaftssystem verankert sind.
"Bologna beziehungsweise die dahinter liegende Vorstellung eines zusammenwachsenden europäischen Hochschulraums sei eine der besten Ideen gewesen, die Europa je hatte", brachte es denn auch der Generalsekretär der VolkswagenStiftung Dr. Wilhelm Krull unter einhelliger Zustimmung der rund hundert teilnehmenden Experten, Beobachter und Wegbegleiter dieses raumgreifenden Veränderungsprozesses auf den Punkt.
Im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in der niedersächsischen Landeshauptstadt hatte man sich getroffen, um Bilanz zu ziehen. 1999 war die europäische Studienreform gestartet; damals hatten sich europäische Bildungsminister in Bologna darauf verständigt, einen einheitlichen Hochschulraum zu schaffen, in dem unter anderem Studiengänge und deren Inhalte sowie Abschlüsse vergleichbar und wechselseitig anerkannt sein sollten. Allein der Blick nach Deutschland, in ein Land mit zuvor gänzlich anderer Studiengangstruktur, zeige, wie stark der Veränderungsprozess in einzelnen Ländern gewesen sei, konstatierte eingangs der Veranstaltung Barbara Kehm von der Universität Hannover. Nicht minder stark sei allerdings auch der Beharrungsprozess einzelner Fächer, der – ebenfalls wiederum vor allem – hierzulande sichtlich nachwirke.
Aktuell schließen hierzulande inzwischen rund 92 Prozent aller Studiengänge mit dem international anerkannten Bachelor und Master ab; die deutschen Hochschulen bieten knapp 9000 Bachelor- und inzwischen nahezu ebenso viele Masterstudiengänge an. Etwa zwei Drittel der Bachelor-Absolventen nehmen ein Masterstudium auf. Insgesamt befindet sich Deutschland inzwischen unter den Top 5 der beteiligten Länder, legt man den Stand der Umsetzung der 13 harten "Bologna-Ziele" zugrunde.
Den Bologna-Prozess als Ganzes betrachtet, können vier der 13 Ziele bei (fast) allen Ländern als weitgehend erreicht gelten, stimmte man überein: Dies umfasst die Einführung einer gestuften Studienstruktur; umfassende, ausreichende wie adäquate Zugangsmöglichkeiten zum nächsthöheren Studienabschnitt; die Implementierung eines nationalen Qualifikationsrahmens sowie die Einführung des ECTS-Systems. Vor allem über einige der weiteren Ziele, bei denen manche Länder in der Umsetzung zurückliegen, die aber auch einer strittigeren Wertung unterliegen, wurde bei der Tagung daher umso mehr gerungen.
Zum Beispiel die geforderte internationale Mobilität der Studierenden, für die im Zuge von "Bologna" mehr Anreize gesetzt werden sollten. Von vielen Seiten vorangetrieben, würde dieses Ziel manchmal doch zu sehr als "DAS" zentrale mit "Bologna" verbundene Anliegen gehypt, betonte Robert Coelen von der Universität Groningen. Dabei sei "internationale Mobilität" zum einen kein Wert an sich, zum anderen komme ihm nicht bei allen Adressatengruppen die vermutet hohe Bedeutung zu. Darauf verwies Coelen auf Basis von Ergebnissen aktueller Erhebungen. Danach sei im Profil eines Bewerbers angeführte "Auslandserfahrung" sogar für fast alle international aufgestellten Unternehmen von nachrangiger Bedeutung. Das gelte zumeist auch für Erstbewerber direkt nach dem Studium und selbst dann, wenn die dargelegten internationalen Arbeitskontexte und Auslandsaufenthalte recht passgenau zum Jobprofil passten. Für die große Mehrzahl der Personalentscheider sei es schlicht kein wichtiges Einstellungskriterium.
Coelen verdeutlichte an einem Beispiel, wie sehr Erfüllung und Erwartungshaltung auseinanderfallen können. Manch ein Bewerber entgegne im Vorstellungsgespräch auf die Frage, was der Auslandsaufenthalt gebracht habe, das sei "eine bereichernde, lebensverändernde Erfahrung" gewesen. Wenn der potenzielle Arbeitgeber dann nachhake und frage, was dem Unternehmen das denn brächte, würden die Studenten häufig mit großen Augen schweigend jegliche sinnvolle Reaktion vermissen lassen.
Am Beispiel der Universität von Minnesota verdeutlichte Coelen, wie sich der im Grunde von niemandem bestrittene Schatz im Ausland gesammelter Erfahrung besser vermitteln lasse: Dort würde man die Studierenden institutionalisiert dabei unterstützen, ihre International Storys in Employability Storys umzuformulieren, diese folglich angemessen zu transformieren. So entstünde ein Erfahrungsbericht, den sich auch ein Entscheider in einem Unternehmen interessiert anhöre. "Bologna", bedeute also, nicht nur Herausforderungen zu formulieren, sondern auch nachzujustieren, wenn man merke, dass ein Ziel, so wie es angesteuert werde, offensichtlich nicht den Aufmerksamkeitsfokus aller an einem spezifischen Prozess Beteiligten erreiche.
Die Teilnehmer machten das Themenfeld "studentische Mobilität" auch an anderen Kontexten fest. So stellte Johannes Bergemann von der Universität Göttingen den Studiengang PONS vor. Diese Brücke dient dem Fach Klassische Archäologie als Netzwerk, das im Rahmen der gestuften Studiengänge BA/MA zu Studienortwechseln im Inland ermutigen soll. Das Projekt zielt mithin darauf ab, eine Art Erasmusprogramm für das Inland zu entwickeln, um die Mobilität der Studierenden zu fördern. Ausgangspunkt sei eine Analyse gewesen, der zufolge durch die neuen BA- und MA-Studiengänge ein Wechsel der Universität im Zuge der akademischen Ausbildung beinahe unmöglich geworden sei, betonte Bergemann. Zu verschieden hätten sich diese entwickelt.
Das Projekt PONS zielt nun darauf ab, für die Klassische Archäologie ein beispielhaftes Netzwerk für den Studienortwechsel innerhalb Deutschlands zu schaffen. Damit werde ein Element wiederbelebt, das über lange Zeit die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Geisteswissenschaften befördert habe, wurde von vielen lobend mit Blick auf dieses vorzeigbare Beispiel festgehalten.
Begrüßt wurden in der Diskussion darüber vor allem die einzelnen Bauteile von "PONS", die die von Göttingen aus geschlagene "Brücke" in ihrer Gesamtheit einzigartig tragfähig machten. Dazu zählen ein Kerncurriculum des Fachs als Schnittmenge aller beteiligten Studienordnungen; ein Beratungskonzept für Studierende; eine Internetplattform, die Informationen über die aufnehmenden Institute und weitere konkrete Hilfestellungen bietet sowie die für die Institute spezifischen Spezialisierungen; des Weiteren ein Konzept für die volle Anrechnung der Studienleistungen an auswärtigen Instituten; fortlaufende interne und abschließende externe Evaluierung – mit dem Ziel der dauerhaften Etablierung der Maßnahmen. Dies sei beispielhaft für ein curriculares Gesamtkonzept über diverse Hochschulstandorte hinweg, wie es sich wohl nur im Zuge der durch Bologna gerade auch hierzulande stimulierten einzelnen Reformprozesse an Hochschulen habe entwickeln können, lobte ein Teilnehmer in der anschließenden Diskussion.
Für die Studierenden folge daraus, dass eine im Rahmen der BA/MA-Studiengänge geschickt gewählte "Tour" – die neben der eigenen zwei oder drei sich möglichst gut ergänzende Universitäten einschließen solle – bereits zu den für den späteren Einsatz im Beruf oder auch in der Forschung erforderlichen sachlichen und fachlichen Kenntnissen führe. Das erlaube es auch, spezifische Vertiefungen in die Ausbildung zu integrieren, erläuterte Bergemann. Die Breite eines Fachs wie der Klassischen Archäologie ergibt sich aus der Summe der Spezialisierungen aller Lehrstühle und Institute der inzwischen insgesamt an PONS teilnehmenden 14 Hochschulen – immerhin die Hälfte der universitären Einrichtungen dieser Disziplin in Deutschland.
Ausgehend davon entspann sich – dabei andere Rahmenkontexte "Bolognas" berührend – eine Diskussion zum einen über die Situation und Bedeutung generell der "Kleinen Fächer" in Zeiten großer Veränderungen im europäischen Hochschul- und Wissenschaftsraum und in den entsprechenden Systemen weltweit, zum anderen über Stellenwert und Erfolg von "General Studies Programmen", wie sie der Lüneburger Hochschulpräsident Sascha Spoun am Beispiel seiner Universität vorstellte.
Spoun war es zunächst auch, der mit Blick auf die immer wieder geforderte, auch hierzulande häufig vermisste Profilbildung von Hochschulen anregte, dass sich doch einige Universitäten explizit auf die "Kleinen Fächer kaprizieren und nur diese anbieten" sollten. Diese sollten sie dann aber "möglichst in großer Fülle und Breite" präsentieren. Er würde regelrecht auf die erste Einrichtung dieser Art warten und versprach ihr viel Erfolg und Aufmerksamkeit und bei guter Forschung und Lehre einen Platz im Konzert der Großen.
Zum Zweiten sieht er in dem an seiner Hochschule angebotenen "General Studies Programme" eine Erfolgsgeschichte ganz im Sinne "Bolognas" und der damit verfolgten Ziele. Spoun plädierte vehement für ein Studium Individuale in der Tradition einer Liberal Education, wie sie seit Langem bereits in den USA und seit Neuerem verstärkt in Europa (wieder) zu finden ist. Anspruch und Erwartung an eine solche Liberal Education sei die intellektuelle und persönliche Entwicklung jeder und jedes Studierenden. In diesem Sinne vermittle das Studium Individuale eine breit angelegte Bildung bei gleichzeitiger Schärfung eines individuellen Profils; begleitend angelegt beziehungsweise gefördert würden dadurch zentrale Fähigkeiten wie analytisches und reflexives Denken; klares, überzeugendes und faktengestütztes Argumentieren; begründetes und perspektivisches Beurteilungsvermögen.
Ermöglicht werde dies im Zuge intensiver Interaktionen mit Lehrenden und Mitstudierenden sowohl in den universitären Veranstaltungen als auch durch Aktivitäten außerhalb des Curriculums. Unisono wurde von vielen Teilnehmern der Herrenhäuser Veranstaltung begrüßt, dass auf diese Weise Studierende und damit Führungskräfte von morgen im besten Sinne den Vorstellungen "Bolognas" folgend hervorragend vorbereitet würden auf kreatives, überlegtes, verantwortungsvolles, im besten Sinne risikobewusstes gesellschaftliches Handeln. Spoun versicherte auf kritische Nachfragen, dass das Studium Individuale inzwischen allgemein anerkannt und etabliert sei. So bilde es nicht nur die Grundlage für eine Vielzahl von Masterprogrammen, sondern befähige für etliche berufliche Tätigkeiten, als auch diene es schlicht und einfach – Lebensprojekten.
Die Freiheit, das eigene Studium zu gestalten, stützte die Freude am Lernen, fördere verantwortliches Handeln und Entscheidungsfähigkeit, fasste im Zuge dieser Diskussion Peter-André Alt zusammen, Präsident der Deutschen Rektorenkonferenz, eine der Ko-Veranstalterinnen der Herrenhäuser Tagung. Dies werde dadurch erreicht, sagte Spoun, dass in Lüneburg Module aus allen Bachelor-Programmen am Leuphana College zielgerichtet kombinieren werden könnten: von Nachhaltigkeit über Wirtschaft, Digitale Medien und Psychologie bis hin zu Recht, Politik und Bildung. Das Studium Individuale verbinde somit die Persönlichkeitsentwicklung in einem individuellen, intellektuellen Interessens- und Spannungsfeld mit der intensiven Auseinandersetzung zu wichtigen Problemen und Herausforderungen von aktueller und kommender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung.
Letztlich sei das ein gutes Beispiel für die mit der seinerzeitigen Bologna-Initialisierung übergreifend verfolgten Ziele, unterstrich die ehemalige Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn. Denn die in den Kernmodulen behandelten Themen solch eines Studium Generale oder Individuale seien sowohl für das Verständnis und Verstehen der gegenwärtigen Welt als auch für das Handeln in ihr und im Umgang mit den konkret bestehenden Problemen relevant. Man gelange dann irgendwann an die zentralen, grundlegenden Fragen – und sei das heute nicht vielleicht wichtiger denn je, fragte die Politikerin. Etwa: Was ist gültiges Wissen? Wie lässt sich ein Problem identifizieren? Welches sind die Möglichkeiten und Grenzen individuellen und kollektiven Handelns? Und schließlich: Wie ist historischer Wandel zu verstehen und zu bewerten? Und last not least: Was ist, was bedeutet und welchen Stellenwert hat eigentlich Freiheit?
Als weiteres Beispiel dafür, was durch den Bologna-Prozess, aber auch über andere Bestrebungen auf diesem Feld wie etwa die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder an Veränderungen angestoßen oder zumindest beschleunigt wird, kamen die verschiedenen Freiburger Ideen zur Sprache. Der Präsident der Universität Freiburg Hans-Jochen Schiewer stellte unter anderem das im Zuge des Erfolgs bei der ersten Runde der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern an seiner Hochschule institutionalisierte Liberal Arts and Science Programme vor, das nach einer Regelstudienzeit von acht Semestern mit dem Bachelor abschließt. Unterrichtet wird auf Englisch. Die Studierenden sollen die Sprache einmal exzellent beherrschen und bereits während des Studiums die Inhalte in der Sprache "Englisch behandeln, da es sich ja oft um globale Herausforderungen handelt, mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben: seien dieser kultureller, gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Natur".
"Liberal Arts"-Studiengänge gibt es seit Langem in den USA und in den Niederlanden an den Universitäten in Utrecht und Maastricht. Letztere seien für das Freiburger Projekt die unmittelbaren Vorbilder gewesen; inzwischen kooperieren die Freiburger mit den Niederländern. Der Studiengang sieht einen erkenntnistheoretischen Fokus vor. Das bedeutet, dass die Studierenden lernen, wie Wissen zustande kommt und was es bedeutet. "Das primäre Ziel des Angebots liegt darin, eine Balance zwischen einer hohen Gestaltungsmöglichkeit und einem Grundstock an Wissen herzustellen", sagte Schiewer. Der Studiengang setzte sich dabei zusammen aus den vier Bereichen "Core" (Kern), "Major" (Hauptfach), "Language" (Sprachen) und "Electives" (Wahlbereich). Diese zögen sich, ähnlich wie Module, durch das gesamte Studium.
Im Rahmen von "Core", dem ersten Studienjahr, werde thematisch insbesondere an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen orientiertes Wissen vermittelt; trainiert würden zudem "Kulturtechniken" wie Recherchieren, Präsentieren, Umgang mit Zahlen, Statistiken, und Modellen, sowie problemorientierte Lern- und Arbeitsformen. Auf den Basiskenntnissen des ersten Studienjahres baue dann der "Major" auf, der aus vier Themenfeldern gewählt werden könne: "Culture and History", "Life Sciences", "Earth and Environmental Sciences" sowie "Governance". Im Bereich "Electives" können die Studierenden frei wählen und entweder ihr Fachgebiet weiter vertiefen, Einblicke in andere Bereiche erlangen oder ein Praktikum absolvieren. Das bedeute auch, dass sie an fachfremden Kursen innerhalb der Universität teilnehmen können.
Auch hier zeigte die anschließende Diskussion in Herrenhausen, dass die Teilnehmer an dem Modell besonders begrüßen, dass solch ein Angebot frei denkende, kreative, verantwortungsbewusste Akteure hervorbringe: ganz im Sinne "Bolognas" – und wie man es sich für ein Europa von morgen wünsche. Da sich "Liberal Arts-Studierende" nicht nur spezifisch auf einen Schwerpunkt konzentrierten, sondern sich einen ebenso umfassenden wie breitgefächerten Grundstock an Wissen aneigneten, seien sie bestens für die Zukunft gerüstet, sagte etwa Catherine Millett, die eigens aus den USA nach Hannover angereist war. Das mache solch ein Studium so interessant – und qualifiziere eben für vieles.
Der Freiburger Präsident Schiewer stellte ferner die grenzüberschreitenden europäischen Universitätsverbünde vor, in die die südwestdeutsche Hochschule eingebunden ist beziehungsweise um deren Etablierung sie sich derzeit bemüht – für einige andere deutsche Universitäten gilt Vergleichbares. Damit war das Feld für die Teilnehmer der Herrenhäuser Tagung eröffnet, auch die erstmals Ende 2017 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgelegten Pläne für ein neues Europa – hier mit Bezug auf den europäischen Hochschulraum – zu diskutieren. Macron hatte die Gründung von zwanzig grenzüberschreitenden, europäischen Universitäts-verbünden angeregt, die ab 2024 "europäische Diplome" ausstellen sollten. Die Europäische Kommission hatte den Vorschlag zwischenzeitlich aufgegriffen und die European Universities Initiative gegründet. Bis zum 28. Februar 2019 konnten Netzwerke europäischer Hochschulen Verbundkonzepte einreichen. Zwölf Hochschulnetzwerke werden ab 2019 von Europa für einen Zeitraum von drei Jahren finanziert.
Was als Ergebnis zu erwarten sein könnte, auch darüber sprachen die Teilnehmer am Rande der Herrenhäuser Tagung. Denn die neuen europäischen Hochschulnetzwerke sollen schließlich so angelegt sein, dass die Studierenden nicht nur im Hörsaal, sondern gerade auch durch praktische Erfahrung und gesellschaftliches Engagement lernen. Ziel ist eine neue, bislang nicht erreichte Qualität des Studiums. Nach Ansicht der Teilnehmer, das wurde schnell klar, sollte es sich im besten europäischen Verständnis bewegen entlang der Qualitäten problemorientiert, forschungsaktuell, mehrsprachig, mobil. All das sei im Prinzip schon mit dem Bologna-Prozess angestoßen, erläuterte Schiewer. Diese neue Qualität, die manch einer der Diskutanten hinter den womöglich etwas zu voluminös geratenden Verbünden verschwinden sieht, soll sich letztlich auch in den Arbeitsalltag fortschreiben der an den beteiligten – und damit letztlich an Europas – Hochschulen Beschäftigten: ob Wissenschaftlerin, Bibliothekar, Lektor, Doktorand, Technikerin, Stratege.
An der Universität Freiburg jedenfalls, die auch außerhalb solcher Verbünde Kontakte zu einer Vielzahl Hochschulen weltweit unterhält bis hin nach Singapur oder Isfahan, Iran, ist man jedenfalls zuversichtlich ob der eigenen Bewerbung, und sieht sich – die Reaktionen der Teilnehmer während der Diskussion bestätigten das durchaus – mit den (in Herrenhausen nur grob skizzierten) Details des Vorschlags in guter Tradition dessen, was mit dem Bologna-Prozess angestoßen wurde.
Bereits mehrfach fiel das Stichwort Berufsbefähigung; Employability – es ist ein weiterer Aspekt, der bei der Herrenhäuser Tagung häufig zur Sprache kam. Forderten die einen mehr Ausrichtung am Arbeitsmarkt, verwahrten sich andere ausdrücklich dagegen. Professor Martin Korte etwa, Neurobiologe an der Universität Braunschweig, betonte, er unterrichte ein Fach und forsche und lehre zu diesem Thema, richte sich aber weder aus an den Erwartungshaltungen irgendwelcher Arbeitgeber noch ziele sein Unterricht zuvorderst auf aktuelle Rahmensetzungen des Arbeitsmarktes. Zuvor hatte Julia Klier von der Universität Regensburg Zahlen präsentiert, die auf umfangreichen Erhebungen von Arbeitgebern und Arbeitsmarktexperten beruhten.
Bis 2023 werden danach 18 Eigenschaften besonders gefragt sein. Darunter finden sich sieben sogenannte "Technical Skills", die schon jetzt über den gesamten Arbeitsmarkt betrachtet defizitär vorhanden seien, aber dringend für eine funktionierende Gesellschaft von morgen benötigt würden. Diese seien ausschließlich im Zuge akademischer Ausbildung anzulegen und zu trainieren und könnten nicht – im Unterschied zu einer Gruppe sechs weiterer sogenannter "Digital Skills" – im späteren Arbeitsleben nachgeschult oder erworben werden. Auch mit Blick auf die ebenfalls als entscheidend erkannten fünf "Classical Skills" – Problemlösungsorientierung, Kreativität, Initiative, Widerstandsfähigkeit, Fähigkeit zum Transfer von Wissen – sei unsicher, inwieweit diese ausreichend bei der Führungselite von morgen angelegt seien.
Mit Blick auf das Europa von morgen diskutierten die Teilnehmer noch über zwei weitere Aspekte, die im Bologna-Prozess explizit wie implizit nachdrücklich mit angelegt sind: die Unterstützung von Studierenden aus benachteiligten Gruppen sowie das noch recht junge Aktionsfeld "Diversity". Die ehemalige Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn verwies darauf, dass es erst in ihrer Zeit als Ministerin – etliche andere Länder sind dann dem Beispiel Deutschlands gefolgt – habe durchgesetzt werden können, dass Studierende mit BAföG-Anspruch diesen auch für Aufenthalte im Ausland sicherstellen konnten. Bulmahn betonte, dass auch und nicht zuletzt dadurch das Bewusstsein dafür geschärft worden sei, dass die Integration von Studierenden aus nicht so vermögenden Familien – und insbesondere generell aus unterrepräsentierten Gruppen – an den Hochschulen Europas ein wichtiges Ziel der Bologna-Bestrebungen im Kontext der sogenannten "sozialen Dimension des Reformprozesses" gewesen sein.
Inzwischen ist in immerhin zwei Dritteln der Länder des europäischen Hochschulraums die Mitnahmefähigkeit der staatlichen Studienförderung bei Auslandsmobilität gegeben. Diese Länder gewährleisten in Summe eine zumindest weitgehend umfassende finanzielle (Grund-)Unterstützung ihrer Studierenden. Dazu zählen auch gezielte Hilfen für unterrepräsentierte Studierendengruppen. Allerdings erfüllt derzeit mit Frankreich nur eins von 48 Ländern den Bologna-Indikator der gezielten finanziellen Förderung der Auslandsmobilität seiner Studierenden aus benachteiligten Gruppen vollständig – einschließlich der durch die Bologna-Kriterien vorgegebenen systematischen Begleitung und Evaluation dieser Auslandsaktivitäten.
Diversity ist in den vergangenen Jahren nicht nur zu einem vielfach kontextualisierten Begriff geworden, sondern gerierte auch zu einem erst später formulierten, quasi "nachgeschobenen" Ziel im Bologna-Prozess. Bei der Herrenhäuser Tagung war es eines der am meisten, vor allem perspektivisch diskutierten Themen. Das verwundert nicht, wie auch die Ausführungen des ehemaligen Rektors der Universität Amsterdam, Sijbolt Noorda, zeigten. Er verwies darauf, dass zum einen Behinderung oder auch der Umgang mit sexueller Identität noch nicht allzu lange in Europas Hochschulen offen thematisiert worden oder "einfach sichtbar" seien; dies aber inzwischen als zwingend notwendig erkannt und als Bereicherung empfunden werde. Zum anderen habe die diesbezügliche Heterogenität in der Studierendenschaft erheblich zugenommen und werde weiter zunehmen. Das müssten die Hochschulen besser als bisher in den Blick bekommen – auch deshalb, da lange vernachlässigt worden sei, dass auf gleiche Weise die Hochschul-Mitarbeiter in das entsprechende Denken und Handeln einzubeziehen sind. Es handele sich hier um eine Herausforderung, auf die sich die Hochschulen systemisch und systematisch einstellen müssten, betonte Noorda.
So hätten erste Untersuchungen gezeigt, dass nicht so sehr jene Maßnahmen erfolgreich gewesen seien, die ausdrücklich einzelne Zielgruppen adressiert hätten. Hingegen seien es zumeist die umfassender angelegten Ansätze gewesen, die reüssiert hätten. Gezeigt habe sich bei dem Versuch, regelrechte Diversity-Strategien zu etablieren, dass man auf dieselben Herausforderungen bzw. Hürden stoße wie bei der Implementierung anderer "Querschnitts-Strategien" an einer Hochschule. So ist beispielsweise der Bezug einer Gender-, einer IT-Strategie oder auch einer Internationalisierungsstrategie zu der Gesamtstrategie einer Hochschule häufig weder leicht an den entsprechenden Dokumenten zu erkennen, noch sei den Beteiligten klar, wie diese verschiedenen Konzepte ineinander greifen sollten. Verschiedene Beispiele aus Hochschulen zeigten, dass ein Kapitel zum Gender Mainstreaming in einem Hochschulentwicklungsplan ebenso wenig eine Garantie ist für eine tiefgreifende, gelungene Verankerung der Gleichstellungspolitik im Handeln der Hochschule, wie es die Einrichtung einer Gleichstellungsbeauftragten sein könne.
Erneut wurde die Universität Michigan hier als Beispiel genannt, wie man mit dem Thema Diversity sowohl fundierte maximale Aufmerksamkeit als auch substanziell an Kraft gewinnen kann. Ihr sei es gelungen, innerhalb von zwei Jahrzehnten entlang ihrer – frühzeitig institutionalisierten – Diversity-Strategie zu einer der stärksten Hochschulen der Welt zu werden. Auf die Frage, wie eine Hochschule denn mit dem Thema Diversity das eingeworbene Budget so erheblich steigern und auch noch in der Forschung über Drittmittel sich derart erheblich stärken kann, habe der seinerzeitige Präsident Jim Duderstadt gesagt: "We extended the pool!", berichtete Robert Coelen von der Universität Groningen.
Am Rande der Diskussionen kam ab und an auch die Frage auf, ob es sinnvoll sei, den Bologna-Prozess – wie am Beispiel Diversity zu sehen – mit immer neuen Zielen auszustatten, wenn ganz elementar in etlichen europäischen Ländern das akademische Leben und Wirken, die Freiheit von Forschung und Lehre, grundlegend bedroht sind. Wie kein anderer stand dafür bei der Veranstaltung der Rektor der Central European University in Budapest, Livio Mattei. Man merkte, wie sehr ihn das Thema Hochschulautonomie und Freiheit von Wissenschaft; von Forschung und Lehre versus staatliche Eingriffe umtrieb. Viele folgten auch der Einschätzung der norwegischen Hochschulsystemforscherin Martina Vukasovic, die darauf hinwies, dass sich der Aufmerksamkeits- und auch Handlungsfokus im Zuge des Bologna-Prozesses in den vergangenen Jahren sichtlich verschoben habe von der politischen auf die technokratische Ebene; von der Ebene des "Warum macht man etwas?" zum "Wie setzen wir etwas konkret um?" Das erfülle sie ab und an mit Unbehagen.
Auch Monika Jungbauer-Gans vom DZHW in Hannover rückte abschließend einige Fragen in den Fokus. Damit kristallisierten sich noch einmal einige Themenfelder, die es in jedem Fall lohnten, mit Blick auf den Fortgang des Bologna-Prozesses näher erörtert zu werden. Inwieweit beispielsweise sind die Studierenden wirklich auf den Arbeitsmarkt vorbereitet – sei er lokal, regional oder international mit Blick auf die jeweilige Branche? Wie steht es um das Ziel, im Zuge des Bologna Prozesses zu einer sinnfälligen Modernisierung der europäischen Gesellschaft beizutragen? Wie lässt sich die soziale Inklusion im Hochschul- und Wissenschaftssystem weiter voranbringen? Wie ist es bestellt um das lebenslange Lernen, und welche Anreize könnten den Status Quo noch verbessern? Und schließlich: Wie stellt sich der Wettbewerb zwischen Europas Hochschulen beziehungsweise deren Wettbewerbsfähigkeit eigentlich dar, und wie könnte man die Wettbewerbssituation sinnvoll ausgestalten?
Diese Fragen führten zu einem weiteren Hauptthema der Veranstaltung, der Doktorandenausbildung. Deren Reform, erinnerte Wilhelm Krull noch einmal, habe hierzulande spätestens mit Errichtung der ersten Graduiertenkollegs in den 1990er Jahren auf der hochschulpolitischen Agenda gestanden. Angesichts einer sich durch den Bologna-Prozess und die Exzellenzinitiative verändernden Hochschullandschaft würden strukturierte Promotionsformen wie Graduiertenschulen und Promotionsprogramme an vielen Universitäten verstärkt gefördert – die VolkswagenStiftung habe Exzeptionelles ebenfalls unterstützt und Beispielhaftes initialisiert.
Nach wie vor promovieren allerdings drei Viertel der Doktorandinnen und Doktoranden in Deutschland über eine Individualpromotion bei einem Doktorbetreuer. Die Promotion "in Einsamkeit und Freiheit", so wurde diskutiert, sei zwar einerseits erneuerungsbedürftig, andererseits für bestimmte Promotionsvorhaben von Vorteil. Im Zuge der übergreifenden hochschulpolitischen Reformprozesse biete sich nun die Chance, sowohl Defizite in der Individualpromotion anzugehen als auch strukturierte Promotionsformen zu optimieren – und somit letztlich die Vorteile beider Formen akademischer Qualifizierung miteinander gegebenenfalls zu kombinieren, argumentierte ein Teilnehmer. Dies sei auch vor dem Hintergrund eines zunehmend globalen Wettbewerbs um die besten Nachwuchskräfte und Promotionsmodelle wichtig, waren sich die Diskutanten einig.
Als "Weltmarktführer" in der Doktorandenausbildung gelten nach wie vor die USA, war zu hören. Aus Princeton, New Jersey, war Catherine Millett angereist. In ihrem Vortrag machte sie deutlich, dass ihrer Einschätzung nach das Hochschulsystem der USA sich durch einige gerade für die Doktorandenausbildung relevante Merkmale auszeichne, die derzeit auch in Deutschland an Bedeutung gewännen. Millett nannte Aspekte wie eine starke Dezentralisierung und Differenzierung, die mit einer begrenzten staatlichen Regulation sowie großer Varianz der Hochschulen einhergingen, was sich in den Promotionsmodellen niederschlage – und das in steigender Tendenz, betrachte man auf institutioneller Ebene deren Ausdifferenzierung und deren Ausgestaltung im Detail.
Sowohl Milletts Vergleich der beiden Systeme USA und Europa als auch der Vortrag des Präsidenten der Universität Potsdam, Oliver Günther, erfassten die Aspekte Übergänge zur Promotion, Promotionsstrukturen und deren Organisation, Doktorandenstatus und Finanzierung, Qualitätssicherung, Evaluation und Betreuung, Mobilität und geforderte Internationalität sowie Erfolgsquoten und Absolventenverbleib – und nicht zuletzt thematisierten sie die Rolle und Bedeutung des Doktorgrades und damit die Stellung solch eines Titelträgers in der Gesellschaft.
Ausgehend von dem letztgenannten Aspekt entspann sich eine Diskussion um die verschiedenen Qualitäten von Doktortiteln. Auf der einen Seite ließen sich jene verorten, die Günther als "vollständige" Dissertationen bezeichnete. Diesen Bemühungen liege echte forscherische Tätigkeit zugrunde. Solch ernsthaftem Streben stünden diejenigen Doktorarbeiten gegenüber, die allein mit Blick auf bestimmte Erwartungshaltungen des Berufsfeldes angegangen würden oder deren Motivation sich vor allem speise aus dem späteren Tragen des Titels, machte Günther deutlich. Er forderte letztlich, hier die Spreu vom Weizen zu trennen und künftig die unterschiedlichen Qualitäten der Doktorarbeiten bereits mit den Titeln klar anzuzeigen. Ein gutes Beispiel für solch einen "incomplete doctor" sei der des Arztes, dem typischerweise keinerlei Forschung im eigentlichen Sinne zugrunde liege. Dieser Abschluss sei kenntlich zu machen durch den Namenszusatz MD für "Medical Doctor", forderte Günther.
Anhand der Analyse der jeweils diskutierten Stärken und Schwächen sowie entlang existierender Reformvorschläge wurden Ansätze für die weitere Reform der Promotionsphase in Deutschland diskutiert. Dabei konnte es die VolkswagenStiftung freuen, dass einige der Reformvorschläge Elemente enthielten, die bereits bei den vor einigen Jahren von ihr geförderten Modellprojekten so oder so ähnlich angelegt waren.
Gegen Ende stellte Rolf Tarrach, Präsident der European University Association (EUA) – die EUA war zugleich weiterer Ko-Veranstalter der Tagung –, wohl eher rhetorisch die Frage in den Raum, ob der Bologna-Prozess nicht absehbar für vollzogen oder beendet erklärt werden könne. Doch dem mochte sich niemand anschließen. Der Bologna-Prozess habe immerhin etliche auf Veränderung zielende Vorhaben in den Hochschul- und Wissenschaftssystemen seiner Mitgliedsländer beschleunigt, manche gar deutlich katalytisch, einige wenige vielleicht auch gestoppt; doch vieles sei letztlich unvollendet. Daran erinnerte noch einmal der Generalsekretär der VolkswagenStiftung Wilhelm Krull.
Von vielen Seiten wurde während und zum Ende der Tagung wiederholt dafür plädiert, dass die entscheidende Kategorie VERTRAUEN sein müsse. Man müsse nicht in allen Mitgliedsländern alles genau gleich handhaben, aber einander vertrauen, dass alle am gemeinsamen Ziel arbeiteten und dabei möglicherweise unterschiedliche Geschwindigkeiten an den Tag legten und individuelle Wege einschlügen. "In God we trust, all others need data", hatte Wilhelm Krull eingangs der Tagung den Philosophen W. Edwards Deming zur Freude der Teilnehmer zitiert. Die gute Botschaft laute, griff er am Ende der Tagung den Faden wieder auf, dass es offenbar erfreulich viele Götter gebe.