Veranstaltungsbericht

Schärft die Sinne: Künstliche Intelligenz in der Nutztierhaltung

#Künstliche Intelligenz

Autorin: Dr. Ulrike Schneeweiß

Wie kann künstliche Intelligenz die Landwirtschaft dabei unterstützen, das Wohl von Nutztieren zu wahren und zu fördern? Diese und weitere Fragen diskutierte eine Fachrunde am 9. März digital im Herrenhäuser Forum "KI in der Nutztierhaltung ‒ Das Ende des armen Schweins?", das in Kooperation mit dem Verbund Transformationsforschung agrar Niedersachsen durchgeführt wurde.

Ein Mensch steht mit einem Laptop im Schweinestall. Play Video

In seiner Einführung hob Moderator Dr. Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft, die Rolle der Landwirtschaft als Modernisierer unserer Gesellschaft in Sachen Digitalisierung hervor. Doch wohin führt die Entwicklung der Nutztierhaltung: Bringen Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) mehr Nachhaltigkeit oder noch stärkere Intensivierung? Und wem kommt der digitale Fortschritt letztlich zugute - profitieren die Tiere, die Landwirte und Landwirtinnen oder die Konsumenten?

Knapp die Hälfte des Publikums schätzte zu Beginn der Veranstaltung, dass Tiere am ehesten profitieren werden. Ebenfalls knapp die Hälfte vermuteten Vorteile auf Seiten der Erzeugung und zehn Prozent der Zuhörenden erwarteten Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher. 

Zum Einstieg fragte Lingenhöhl die Runde, welche KI-Technologien in der Nutztierhaltung bereits zum Einsatz kämen. Prof. Dr. habil. Eberhard Hartung, Direktor des Instituts für Landwirtschaftliche Verfahrenstechnik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, beschrieb umfangreiche Sensoriksysteme, die in der Landwirtschaft schon seit Jahren genutzt würden, um verschiedene Indikatoren des Tierwohls zu überwachen.

"Beschleunigungssensoren messen die Aktivität von Tieren, Bildanalysen geben Auskunft über die Gewichtszunahme, optische Sensoren erkennen die Zusammensetzung der frisch gemolkenen Milch", führte er als Beispiele an. Diese Art von Beobachtungen, erklärte der Experte für Verfahrenstechnik in der Landwirtschaft, erlaubten den Haltenden, die Tiere nach Bedarf zu Füttern und Änderungen im Verhalten oder Anzeichen einer Erkrankung frühzeitig zu erkennen. Die Nutzung der gewonnenen Daten durch Systeme aus dem Spektrum der KI sei jedoch noch nicht weit verbreitet, fügte Prof. Dr. Nicole Kemper, Leiterin des Instituts für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, hinzu.

Laptopbildschirm mit Videokonferenzteilnehmenden

Die Veranstaltung fand aufgrund der Coronapandemie digital statt und konnte im Livestream verfolgt werden.

Prof. Dr. Joachim Hertzberg, Leiter des Forschungsbereichs Planbasierte Robotersteuerung im DFKI-Labor Niedersachsen des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, bot folgende Definition für KI als Grundlage für die Diskussion an: "Wir sprechen von Künstlicher Intelligenz, wenn Algorithmen und Systeme mit unsicherem und unvollständigem Wissen oder unsicheren und unvollständigen Daten umgehen können." Als Beispiel nannte er den Melkroboter, der die Zitzen der Kuh im Melkstand treffsicher finden muss - egal ob diese vorher im Schlamm oder im Stroh gelegen hat. "Keine Kuh gleicht der anderen, keine Situation gleicht der anderen, und doch muss die Steuerung jedes Mal genau richtig andocken", sagte KI-Forscher Hertzberg. Der Vorgang sei beispielhaft für Anwendungen aus der KI, die sich nach und nach in der Landwirtschaft einschlichen.

Prof. Dr. Admela Jukan vom Institut für Datentechnik und Kommunikationsnetze der Technischen Universität Braunschweig ergänzte, dass in der Landwirtschaft viele Systeme auf Basis des Supervised Learnings (einer Art des maschinellen Lernens, Anm. d. Autorin), zum Einsatz kämen. Sie analysieren etwa Bewegungsmuster der Tiere um Anzeichen von Schmerz frühzeitig zu erkennen. "Neu sind Anwendungen aus der Informations- und Kommunikationstechnologie", fügte sie hinzu. "Diese helfen Mensch und Tier, sich besser zu verstehen!"

Unterstützung für Landwirte

"Wird der Landwirt letztendlich überflüssig", wollte Moderator Lingenhöhl wissen, "oder ist er irgendwann nur noch der Systemadministrator des KI-gesteuerten Hofes?" Die Diskutierenden waren sich einig, dass die Technologie den Menschen unterstützen, nicht aber ersetzen werde. "KI schärft die Sinne der Tierhalter", erklärte Hartung. Sie nehme Veränderungen und Auffälligkeiten wahr, um etwa Stress oder Krankheit früh zu erkennen.

Ergebnisse der KI-Systeme würden aber immer verifiziert durch Menschen, betonte Tiermedizinerin Kemper. Menschliche Expertise fließe in die Entwicklung der Systeme und sei unerlässlich für ihre Anwendung. "Es ist ja gut, wenn ein KI-System den Landwirt nachts alarmiert, weil ein Tier Fieber bekommt", sagte die Tierwohl-Forscherin. "Das Medikament wird aber immer ein Mensch verordnen." Auch in der Forschung, etwa wenn es um die kamerabasierte Früherkennung des Schwanzbeißens gehe, überprüfe stets ein Mensch, was das KI-System angibt, erkannt zu haben. 

Durch die zunehmende digitale Vernetzung von Systemen und den wachsenden Datenfluss gebe es immer mehr Daten, die helfen, KI-Prozesse zu optimieren, erklärte Hertzberg. Beispielsweise sei die individuelle Tiererkennung, vergleichbar der Gesichtserkennung beim Menschen, bereits möglich. "Und auf dem Gebiet tut sich gerade sehr viel", schilderte der Informatiker. Die Kombination unterschiedlicher Daten und kontextsensitiver Algorithmen bringe spannenden Entwicklungen hervor und biete viele Chancen, sagten auch Kemper und Hartung. Als Beispiel nannte Hartung Steuerungssysteme für Stallbelüftung, die auf Wetterberichte zugreifen und die Bedingungen für die Tiere automatisch anpassen.

Mann während einer Videokonferenz.

Aus Sicht des KI-Experten Hertzberg bleibt die KI in Landwirtschaft und Tierhaltung eine Hilfswissenschaft.

Selbst der Weg zum Schlachthof, sagte Kemper auf eine Nachfrage aus dem Publikum, ließe sich künftig dank Sensorik und KI stressfreier gestalten. "Es geht dabei um intelligente Echtzeitanalyse", erläuterte Jukan. "KI-Systeme sind in der Lage, selbstständig Entscheidungen zu treffen." Sie förderten dabei per se weder das Tierwohl noch eine Intensivierung in der Nutztierhaltung. Zu welchem Zweck sie genutzt würden, ergänzte Hartung, liege in der Hand der Anwendenden. 

Sichere und demokratische Lösungen

Jukan sprach von einer ganzheitlichen Betrachtung des Tierwohls durch sogenannte Animal Cyber Systems, die Infrastruktur und Sensorik sowie die Datenanalyse umfassen. Eine Herausforderung sei derzeit noch das korrekte Datenlabelling (die Beschriftung zur Kategorisierung der Daten, Anm. d. Autorin), da die von den Sensoren gesammelten Daten nicht immer in maschinenverständlicher Form geliefert würden. Schwierigkeiten sehe sie zudem in der - derzeit vorwiegenden - Implementierung der Technologien als proprietäre, also herstellergebundene, Systeme, die in erster Linie kommerziell ausgerichtet seien. "Wir brauchen eine Demokratisierung dieser Technologien mit offenen, testbaren und verifizierbaren Systemen", sagte Jukan. Zahlreiche Startups, ergänzte sie, arbeiteten heute mit offenen Plattformen. An vielen Stellen fehlten aber noch die Fachkräfte mit interdisziplinären Kenntnissen und der harmonische, interdisziplinäre (Daten-)Austausch. "Dabei kurbeln Open Access Technologien das Innovationspotenzial an." 

In der Logistik sei die Entwicklung beispielsweise viel weiter, und auch in der Landwirtschaft sei der Einsatz etwa sprachgesteuerter intelligenter Systeme durchaus vorstellbar. Selbst die Sicherheit, etwa gegen Hackerangriffe auf die Systeme, betonte Jukan, sei leichter auf Basis offener als proprietärer Technologien zu optimieren. Dem stimmte Hertzberg zu: "Die Systeme spiegeln die Komplexität unserer Anforderungen an sie: Eine ressourcenschonende, arbeitskräftearme Landwirtschaft erfordert hochkomplexe Technik - die ist natürlich angreifbar." Derzeit gebe es insbesondere Kompatibilitätsprobleme zwischen der "bunten Flotte" von Lösungen verschiedener Hersteller. Diese Probleme träfen insbesondere die Nutzenden und Vertreibenden: Landwirte und Landwirtinnen sowie Menschen, die mit Landmaschinen handeln.

Was kostet KI? 

Die Frage nach den Kosten für KI in der Nutztierhaltung fanden die Diskutierenden übereinstimmend "nicht leicht zu beantworten". Jeder Betrieb brauche seine eigene, maßgeschneiderte Lösung, hob Kemper hervor. Größere Höfe hätten zwar eher finanzielle Mittel für Neuanschaffungen, auch kleinere seien jedoch interessiert. "Und gerade junge, männliche Hofnachfolger sind tendenziell technik- und innovationsaffin und daher bereit, zu investieren", schilderte sie.

"Ein Betrieb erwirbt eine Systemlösung inklusive KI-Technik", erklärte Hertzberg. Der KI-Anteil darin sei nicht leicht zu beziffern, entpuppe sich möglicherweise bei genauer Betrachtung aber als erstaunlich klein, schätzte er. Zudem bringe die Technik den Landwirten und Landwirtinnen weitere, nicht direkt zu beziffernde Vorteile, gab Hartung zu bedenken. Sie vergrößerten das Wissen über ihre Tiere, hätten mehr Zeit für sie und höhere Flexibilität.

Bei der erneuten Umfrage unter den Zuhörendenden sahen 77 Prozent (vorher 45 Prozent) von ihnen das größte Potential für Vorteile durch KI-Technologien bei den landwirtschaftlichen Erzeugenden. Nur noch 17 Prozent (vorher 45 Prozent) erwarteten einen Vorteil für die Tiere. Ein überraschender Wandel, wie Moderator Lingenhöhl kommentierte, hatte sich die vorhergehenden Diskussion doch in großen Teilen um das Erfassen und Auswerten von Tierwohlindikatoren gedreht.

Und wo sehen die Experten und Expertinnen die KI in der Landwirtschaft in zehn bis fünfzehn Jahren? Kommunikationsexpertin Jukan betont zwei wichtige Aspekte der zukünftigen Entwicklung: "Die Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen und die Qualität der Daten müssen gewährleistet sein. Dafür brauchen wir dringend mehr interdisziplinäre Fachkräfte und Zusammenarbeit, homogene Datengestaltung und Strukturen für die gemeinsame Datennutzung." Aus Hertzbergs Sicht bleibt die KI in Landwirtschaft und Tierhaltung eine Hilfswissenschaft. Das Interesse und die Akzeptanz für KI-Technologien hätten in den vergangenen 20 Jahren zwar deutlich zugenommen und sie würden zunehmend sicherer und verfügbarer. "Die Entscheidung darüber, zu welchem Zweck sie eingesetzt werden, liegt jedoch bei den Landwirten und unserer Gesellschaft", resümiert der Informatiker.

Informationen zur Veranstaltung

Herrenhäuser Forum
Das Ende des armen Schweines? Künstliche Intelligenz in der Nutztierhaltung
Dienstag, 9. März 2021, 19:00 Uhr
Xplanatorium digital

Programm

Podiumsdiskussion mit

Prof. Dr. habil. Eberhard Hartung, Institut für Landwirtschaftliche Verfahrenstechnik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Prof. Dr. Joachim Hertzberg, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Osnabrück
Prof. Dr. Admela Jukan, Institut für Datentechnik und Kommunikationsnetze, Technische Universität Braunschweig
Prof. Dr. Nicole Kemper, Leiterin des Instituts für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Moderation: Dr. Daniel Lingenhöhl, Spektrum der Wissenschaft

Die Veranstaltung wird in Kooperation mit dem Verbund Transformationsforschung agrar Niedersachsen durchgeführt.

KI in der Nutztierhaltung - Das Ende des armen Schweines?

Künstliche Intelligenz kommt auch in der intensiven Nutztierhaltung zum Einsatz. Wie aber wird KI vorwiegend eingesetzt? Zur Steigerung des Tierwohls oder der Produktion? Das Herrenhäuser Forum am 9. März 2021 geht der Frage nach, wie der Einsatz von künstlicher Intelligenz sowohl Produzenten als auch Tieren nützt. 

In der intensiven Nutztierhaltung sind Digitalisierung, Big Data und darauf aufbauende Systeme, die mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeiten, noch relativ jung. Sie bieten aber schon jetzt ein großes Potential, um beispielsweise den Gesundheits- und Gemütszustand von Tieren zu erkennen und direkt darauf zu reagieren. Ein klarer Gewinn unter Tierwohlaspekten in der immer wieder unter Kritik stehenden konventionellen Fleischproduktion. KI ist also keine systemerhaltende Innovation, sondern vielmehr ein Mittel zur längst überfälligen Transformation.

Wie kann sichergestellt werden, dass KI nicht zum weiteren quantitativen Wachstum, sondern primär zur Verbesserung des Tierwohls eingesetzt wird? Wo genau kann KI in der konventionellen Fleischerzeugung eingebunden werden? Welche technischen und finanziellen Möglichkeiten braucht es auf Seiten der Produzent(innen), um KI sinnvoll und effizient nutzen zu können?