Künstliche Intelligenz wird von Wissenschaftler:innen viel beforscht. Jetzt sollen zufällig ausgewählte Menschen aus der Mitte der Gesellschaft diese Forschung mitgestalten: In einem Bürger:innenrat arbeiten sie an Empfehlungen für die Politik.
Möglicherweise sind sie Krankenpfleger:innen oder Handwerker:innen: 40 zufällig ausgeloste Bürger:innen erarbeiten ab Samstag, den 21. September Strategien für die Zukunft der Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI). Sie kommen zusammen im Bürger:innenrat "Künstliche Intelligenz und Freiheit", den das von der VolkswagenStiftung geförderte Center for Rhetorical Science Communication Research on Artificial Intelligence (RHET AI) ins Leben gerufen hat.
"Das RHET AI ist ein an der Universität Tübingen angesiedeltes Forschungszentrum mit Partnern wie unter anderem dem Karlsruher Institut für Technologie", erklärt Patrick Klügel, Public Engagement Manager der Universität und Mitbegründer des RHET AI. In fünf Units forschen dort Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen. "Sie beobachten den Diskurs über Künstliche Intelligenz und untersuchen seine Themen und Kommunikationsmuster", so Klügel.
Narrative, die über KI existieren – beispielsweise aus Science-Fiction-Filmen – prägen die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber der Technologie. "Allerdings erschweren sie einen evidenzbasierten Diskurs", sagt Klügel. "Deshalb ist es ein Anliegen das RHET AI, diese Framings und Mythen zu untersuchen."
In eigens entwickelten Formaten thematisieren die Wissenschaftler:innen des Zentrums diese Narrative. Dabei ist ihr transdisziplinärer Ansatz am RHET AI Center, das von Rhetorikprofessor Olaf Kramer geleitet wird, von Vorteil: Das, was die eine Unit anhand von Daten erforscht, kann die andere in der Praxis ausprobieren – und umgekehrt. Doch alle Bereiche verfolgen dasselbe Ziel: "Wir wollen an einen Diskurs herankommen, der den Problemen und Möglichkeiten der KI besser gerecht wird", sagt Patrick Klügel.
Kooperation auf Augenhöhe
Klügel selbst ist Teil der Unit 4 – der Eventunit. Er und seine Kolleg:innen entwickeln Formate der Wissenschaftskommunikation und evaluieren diese: Formate wie den Bürger:innenrat, der in den kommenden neun Wochen vier Mal in verschiedenen Städten in Baden-Württemberg tagen wird.
Klügel verfolgt die Idee des Bürger:innenrats schon seit einigen Jahren. Als Public Engagement Manager der Universität Tübingen ist es seine Aufgabe, die Zivilgesellschaft in den Forschungsprozess einzubinden. Dabei gehe es ihm nicht nur darum, dass Forschende den "Elfenbeinturm Universität" verlassen, sondern um eine wechselseitige Kooperation, "da, wo sie sinnvoll ist".
"Der Bürger:innenrat erschien uns ein spannendes praktisches Projekt, mit dem nicht nur die üblichen Verdächtigen angesprochen werden", sagt Klügel. Denn die Teilnehmenden des Rats werden zufällig ausgelost.
Dafür hat sich das RHET AI Unterstützung von einer Agentur geholt. Diese hat Bürger:innen aus verschiedenen Städten und Dörfern in Baden-Württemberg ausgelost. Diejenigen, die Interesse an der Teilnahme am Bürger:innenrat signalisierten, mussten den Forschenden dann Infos zu ihrem höchsten Bildungsgrad und einer möglichen Migrationserfahrung geben. Am Schluss stellte die Agentur so eine vielfältige Gruppe zusammen, die der soziodemographischen Zusammensetzung der Bevölkerung Baden-Württembergs nahe kommt. "30 Prozent der Teilnehmenden haben kein Abitur, wir haben junge und alte Menschen und Beteiligte mit Migrationsgeschichte", sagt Patrick Klügel.
Wie man epistemische Ungerechtigkeit untersucht
Auch Anika Kaiser kommt diese Vielfalt zugute: Kaiser ist Rhetorikerin und arbeitet am RHET AI als Teil der Unit 4 unter anderem an ihrer Dissertation: "Ich will herausfinden, wie Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven gut zusammenarbeiten können."
Wenn verschiedene Menschen zusammenkommen, kann es sein, dass aufgrund von Heuristiken unangemessene Zuschreibungen über die Glaubwürdigkeit von Personen gemacht werden. "Zum Beispiel wurde jahrelang – und wird teils bis heute – angenommen, dass Frauen weniger wissen", erklärt Kaiser. "Das führte dazu, dass Frauen strukturell weniger an epistemischen Prozessen beteiligt sind – etwa in der Organisation von Institutionen oder in der Sprache." So würde auch weniger Wissen von und über Frauen in die Forschung einfließen.
Dieses Phänomen, das Anika Kaiser untersuchen will, nennt sich "Epistemische Ungerechtigkeit" – ein Begriff, den die britische Philosophin Miranda Fricker geprägt hat. "Im Public Engagement geht man davon aus, dass Austausch alle bereichert", sagt Kaiser. "Ich habe mich gefragt, wie epistemische Ungerechtigkeit diese gemeinsame Wissensgenese behindert."
Mithilfe von Fragebögen und Videoaufzeichnungen analysiert Kaiser daher die Zusammenarbeit der Teilnehmenden im Bürger:innenrat: Welche Kommunikationsbedingungen ermöglichen den Teilnehmenden eine gerechte Beteiligung am gemeinsamen Austausch? Wie erzeugen sie gemeinsam Wissen – und inwiefern ist das abhängig von diesen Bedingungen? Die Fragen, die sie sich stellt, sind vorläufig. Ihr Ziel aber ist klar: Kaiser möchte mit ihrer Forschung Wege finden, Probleme der epistemischen Ungerechtigkeit kommunikativ zu überbrücken.
Gleichberechtigte Expert:innen ihrer Lebenswirklichkeit
Patrick Klügel betont: "Wir können die Forschung zu epistemischer Ungerechtigkeit nur machen, weil wir im Rat intensiv mit den Bürger:innen zusammenarbeiten". Diese Zusammenarbeit ist ein Grund, wieso ihn das Konzept Bürger:innenrat begeistert: "Man kommt über eine Eventisierung der Wissenschaftskommunikation hinaus – hin zu einer echten, vertrauensvollen Kooperation."
Um eine solche Kooperation zu ermöglichen, haben Klügel und sein Team die Sitzungen des Rats so interaktiv wie möglich geplant. Es soll keine langen Vorträge von KI-Forschenden geben. Stattdessen stehen Empowerment, Austausch und Kleingruppenarbeit auf dem Stundenplan. "Wir wollen zeigen, dass die Forschenden nur eine Expertise von vielen einbringen, und dass die der Teilnehmenden genauso wertvoll ist", sagt Klügel.
Die Idee: Die Teilnehmenden sind Expert:innen ihrer Lebensumfelder. "Die meisten Menschen haben praktisches Wissen über eine Branche, zum Beispiel Pflegekräfte", sagt Klügel. Wenn zum Einsatz von KI im medizinischen Bereich geforscht werde, könne dieses Wissen stärker berücksichtigt werden. "Wir wollen produktiv mit verschiedenen Expertisen arbeiten."
Dieses Vorhaben verdeutlicht den transdisziplinären Ansatz des Bürgerrats: Die Bürger:innen liefern nicht nur Daten, sondern die KI-Forschenden sollen von ihnen lernen. Über allem steht die Frage: Wie können Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam die Zukunft der Forschung zu Künstlicher Intelligenz gestalten? Neben den Ratssitzungen wird es Begleitveranstaltungen – etwa einen KI-Poetry-Slam oder ein Kneipenquiz – geben, um die Zivilgesellschaft auf das Projekt aufmerksam zu machen.
Hilfreiche Ergebnisse – auch für andere Disziplinen
Ziel aller Sitzungen ist es, ein Policy Paper zu erarbeiten, das voraussichtlich im Dezember an das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) übergeben werden soll.
Wissenschaftsministerin Petra Olschowski war am 3. September bereits zu Besuch an der Universität Tübingen, unter anderem, um einen Einblick in das Projekt zu erhalten. Das Policy Paper soll konkrete Handlungsempfehlungen für das zukünftige Einbeziehen der Zivilgesellschaft in unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses beinhalten.
Und auch darüber hinaus sind die Ergebnisse des Prozesses spannend: Die Forschung von Anika Kaiser kann zu gerechteren Kommunikationsbedingungen in der Wissenschaftskommunikation beitragen. Mit ihren Daten ließe sich außerdem der Kommunikationsverlauf innerhalb des Rats analysieren. Bürger:innenräte seien in der Wissenschaftskommunikation noch nicht ausreichend evaluiert, betont Patrick Klügel.
Der Rat des RHET AI könne helfen, methodische Fragen des Public Engagements besser zu beantworten, zum Beispiel: Wie viel Zeit können und wollen Bürger:innen einbringen? Wie wollen sie eingebunden werden? Wollen sie Forschungsfragen mitentwickeln, Daten sammeln oder über Fördergelder mitentscheiden?
Und so kann der Bürger:innenrat auch eine Art Blaupause sein: nicht nur für andere Bundesländer, sondern auch für andere Forschungsdisziplinen wie etwa die Klimaforschung – ganz im Sinne des transdisziplinären Ansatzes des RHET AI und der Wisskomm hoch drei Initiative der VolkswagenStiftung.